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bines_brimborium

Posted on 29.3.2020

Alles in allem würde ich wohl eher 4,5 Sterne geben, weil mir das erste Drittel des Buches nicht so gut gefallen hat, das Buch mich aber sehr berührt hat und ich es für meine Verhältnisse unheimlich schnell gelesen habe. Inhalt: Lilly Lindner wird mit 6 Jahren von ihrem Nachbarn, den ihr Eltern unheimlich nett finden, mehrmals vergewaltigt. Der Täter zieht irgendwann weg, doch Lilly seelische Wunden bleiben. Sie führt ihr Leben weiter, schweigt aber über die Tat, wird magersüchtig, versucht sich das Leben zu nehmen und landet schließlich als Prostituierte in einem Edelbordell. Es ist eine Geschichte von einem verletzten Kinderseele und einer Frau, die damit irgendwie erwachsen werden muss. Ich muss sagen, dass ich selten ein Buch so schnell gelesen habe, wie dieses, obwohl es eine Autobiografie ist und ich mit so etwas normalerweise nicht so gut klarkomme. Immerhin hat das Buch 400 Seiten, die ich in 3 Tagen verschlungen habe. Für mich eine wahnsinnige Geschwindigkeit. Der Klappentext wird dem Buch in keinster Weise gerecht. Denn dort hört sich das Buch nach einem Bericht einer Prostituierten über ihr Leben im Bordell an. Das ist aber nur ein ganz kleiner Teil von Lillys Geschichte. Einen viel größeren Teil nimmt Lillys Seelenleben ein. Ich kam mir im ganzen Buch so vor, als würde ich neben Lilly stehen und ihre Gedanken lesen. Es sind sehr verstörende, aber auch unheimlich intelligente Gedanken. Ich muss sagen, besonders der Teil, den Lilly als « Vorspiel » betitelt, ist mir doch sehr an die Nieren gegangen und hat mich selbst unheimlich melancholisch gemacht. Es ist mir einfach unbegreiflich wie herzlos und gleichgültig Eltern zu ihrem einzigen Kind sein können. Das geht einfach nicht in meinen Kopf. Wie kann man nur so unsensibel sein ? Dieser Teil war mir dann auch etwas zu pathetisch und hatte für mich einfach zu wenig Handlung. Größtenteils deprimierende Gedanken. Wäre das noch länger gegangen, hätte ich vielleicht abgebrochen. Dann kam aber die Zeit im Bordell « Passion », von der ich wirklich am liebsten gelesen habe. Nicht nur, dass es natürlich interessant war in ein Edelbordell zu lunzen (auch wenn wirklich nicht so viele Einzelheiten erzählt wurden), es wurde auch mit vielen Vorurteilen aufgeräumt, denn die Atmosphäre in dem Bordell war unheimlich herzlich und ich als Leser habe mich dort sehr wohlgefühlt, wenn man das so sagen kann. Die Mädchen in dem Bordell habe ich als tolle Charaktere empfunden und diese Stelle im Buch war eindeutig meine Lieblingsstelle. Ansonsten kann man sagen, dass Lilly als Prostituierte meiner Meinung nach weniger im Mittelpunkt steht, als Lillys Magersucht, die in dem ganzen Buch allgegenwärtig ist. Wer also ein reines Bordell-Buch hier erwartet, wird enttäuscht werden, denn es geht viel mehr um Lillys kaputte Seele und wie sie ihr Leben trotzdem weiter lebt. Lilly Lindner schreibt ganz außergewöhnlich ehrlich und dabei doch so bildgewaltig und metaphorisch, das ist einfach nur schön. Der Schreibstil ist wirklich bemerkenswert und allein dadurch ist das Lesen dieses Buches ein Genuss. Das Ende hat mir persönlich teilweise überhaupt nicht gefallen (die Sache mit Chase war einfach nichts für mich), und teilweise fand ich es richtig genial, vor allem die letzten Sätze des « Endspiels », ganz einfach aus dem Grund, dass sie realistisch sind und kein vollkommenes Happy End schaffen. So etwas mag ich unheimlich. Das Buch liest sich für diese Seitenanzahl wirklich unerhört schnell und gut. Ich kam selten von Lilly los, musste einfach immer weiter lesen und « bei ihr sein ». Ich war so tief in der Geschichte, dass ich mich beim Laufen durch die Stadt plötzlich gefragt habe, warum ich denn so einen langen Weg schaffe ohne in Ohnmacht zu fallen. Ich identifiziere mich eindeutig manchmal zu sehr mit Romanfiguren... Jedenfalls bin ich wirklich froh, dieses Buch gelesen zu haben, auch wenn es mich runtergezogen hat, denn ich bin froh Lillys Bekanntschaft gemacht zu haben. Das Buch hat sich einfach nur echt angefühlt. An manchen Stellen nur eben ein bisschen zu sehr. Es ist eben auf keinen Fall ein Buch für zart besaitete. Allen anderen kann ich das Buch ans Herz legen, denn wer Lilly nicht kennen lernt, der verpasst etwas.

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