anne_hahn
Mein kleiner Buchladen: „Posthum-Veröffentlichungen“ - Der Geist der Science-Fiction „Anfangs sah ich nur die asphaltierte, endlose und von jäh durchbrochener Stille erfüllte Fahrbahn und das undeutliche Profil meines Freundes und seiner Honda, der mich mal überholte, mal hinter sich zurückfallen ließ. Dann erschien am Horizont, als würde mitten in der Wüste ein Vorhang aufgezogen, eine gigantische, wenn auch ferne Masse, die zu blinzeln oder durch den feinen Regenschleier hindurch sämtliche Graustufen der Welt durchzuprobieren schien. Was zum Teufel ist das?, schrie es in mir. Die Schildkröte des Todes? Der große Skarabäus? Das Ding war meiner Schätzung nach so groß wie ein Berg und bewegte sich in gerader Linie auf uns zu. Angetrieben wurde es von Pseudopodien, vielleicht glitt es auch auf einem Luftkissen.“ Es ist schon wieder passiert. Noch eine posthume Veröffentlichung Roberto Bolaños. 15 Jahre nach seinem verfrühten Tod halte ich einen Roman in den Händen, der noch einmal zurückgeht zu den Anfängen Bolaños, zurück nach Mexiko-Stadt in den siebziger Jahren. 1953 in Chile geboren, verlebte der Jugendliche nach dem Umzug mit den Eltern seine prägenden Jahre in Mexiko City = DF, gründete eine lyrische Bewegung, schrieb Manifeste und trieb allerlei aufsehenerregenden Unfug - wie seine Protagonisten im vorliegenden 226 Seiten starken Roman "Der Geist der Science-Fiction". Bolaño setzt DF ein Denkmal der eigenen Art, einen Reiseführer in ein Zwischenreich. "Wie das verborgene Gesicht anderer Städte die Theater sind, die Parks, die Kais, die Labyrinthe, die Kirchen, die Bordelle, die Bars, die billigen Kinos, die alten Gebäude und sogar die Supermärkte, so fand sich das verborgene Gesicht von DF in dem riesigen Netz legaler, halblegaler und illegaler öffentlicher Bäder." Soeben im Fischer-Verlag erschienen, offeriert der von Christian Hansen stimmig wie feinfühlig aus dem Spanischen übertragene Roman im Anhang Zeugnisse seiner eigenen Entstehungsgeschichte; dort finden sich 24 faksimilierte Seiten aus den Kalendern und Notizheften des Autors, versehen mit hilfreichen Anmerkungen. Aus ihnen und der vorangestellten editorischen Notiz des Verlages geht hervor, dass Roberto Bolaño zu jedem seiner Buchprojekte Ideen notierte, Recherchen, Figuren-Profile, Namenslisten und Zeichnungen anfertigte, sogar einzelne Szenen. Adressen, Gedichte, Telefonnummern, Kapitelüberschriften. Dazu verwendete er alte Kalender und Hefte, aus welchen er später die Reinschrift seiner Romane in Notizhefte mit Spiralbindung vornahm. Aus jenen drei Notizblöcken, dessen letztes Blatt mit der Unterschrift "Blanes 1984" endet, wurde der vorliegende Band editiert. Mich berührt der lange Weg dieser Veröffentlichung trotz fraglicher Freigabe durch seinen Autor, vor allem aber Inhalt und Stil dieses feinen Buches. Zwei junge Männer, siebzehn und einundzwanzig Jahre alt, sind gerade aus Chile nach Mexiko Stadt gekommen und haben sich in der Mansarde auf dem Dach eines Hauses eingerichtet. Während der Ich-Erzähler Remo Morán die Stadt erkundet und den Dichter José Arco zum Begleiter langer Nächte gewinnt, verbringt der jüngere Jan Schrella fast den ganzen Tag "mit dem Schreiben von Briefen und der Lektüre von Science-Fiction-Literatur, die José Arco und ich ihm in rauen Mengen anschleppten". Tatsächlich sammeln sich in der Mansarde solche Bücherberge, dass Jan sie eines Tages zu einem vierzig Zentimeter hohen Jugendstiltisch, einem massiven Bücherblock aus gestohlener Science-Fiction-Literatur formt. Hinter dem Dachfenster geht die Sonne auf und unter, flimmert die Millionenstadt mit all ihren Möglichkeiten. Ihre Bewohner klauen Bücher, debattieren über die 600 Literaturzeitschriften der Stadt, träumen von russischen Science-Fiction-Autoren und verlieben sich gelegentlich in eine Dichterin. Der asiatische Imbissbetreiber, die alte Kaffeehaustrinkerin, der Motorradschrauber oder der Besitzer einer amourösen Badeanstalt, sie alle sind eigentlich Dichter. Jung-Sein als Rausch. Zauber der Freiheit, der unendlichen Zeit. Verheißung, Berührung - die Faszination des Sex. Nächte durchfeiern, reden, streiten. Das Aufregende am Wissenwollen. Mit Remo, Jan und José erzählt Bolaño universell und doch speziell von einigen Wochen einer südamerikanischen Jugend, in einer herzschlagerhöhenden Sprache. Als Remo nach einer durchzechten Nacht ein Motorrad geschenkt bekommt und darauf durch die anbrechende Dämmerung rast, erscheint ihm die Kathedrale der Stadt einen Moment lang als oben zitiertes Ungeheuer; Erst da fiel mir auf, dass neben uns Autos fuhren, dass an den Straßenecken, verrostet und vom Smog verschleiert, Ampeln an und ausgingen, dass Schatten die Gehwege entlanghuschten, rauchend sogar, und Autobusse, hell erleuchtet wie Ausflugsdampfer, Berufstätige zu ihren Arbeitsstellen transportierten. Mitten auf dem Fahrdamm spielte ein Jugendlicher, betrunken oder unter Drogen, mit seinem Leben, fiel auf die Knie und betrachtete ungerührt den vorbeirauschenden Verkehr… Roberto Bolaño wurde mit seinem Roman "Die wilden Detektive" 1998 schlagartig in Spanien und Lateinamerika berühmt, aber zwischen dem Moment, in dem spanische Kritiker hellhörig wurden, und Bolaños frühem Tod, er litt an Leberzirrhose und wartete vergeblich auf eine Spenderleber, lagen nur fünf Jahre. 1977 war Bolaño nach Spanien umgesiedelt, wo er mit seiner Frau in Blanes bei Barcelona lebte, surreale Gedichte schrieb und sommers unter anderem auf dem Campingplatz in Castelldefells jobbte. (Dort lernte er Miralles, die Hauptperson aus Javier Cercas’ späteren Roman "Soldaten von Salamis" kennen - ein Winkelzug des Schicksals, der einen wunderbaren Roman hervorbrachte!) War ich schon von seinen anderen Romanen gebannt (ich lernte Roberto Bolaño mit "Stern in der Ferne" kennen, verliebte mich mit dem "Dritten Reich" und bin ihm seit "2666" verfallen, die mir in dieser Reihenfolge unter die Finger gerieten) - wird uns hier noch eine weitere, unerwartete Facette geschenkt, ein Puzzlestück aus der Frühzeit des großen prosaischen Dichters. Mein Höhepunkt des Buches: das Kapitel "Mexikanisches Manifest", in welchem beschrieben wird, wie das junge Liebespaar seine Nachmittage in einem öffentlichen Bad namens Gimnasio Moctezuma verbringt. "Zwei besonders unauslöschliche Erinnerungen sind sind mir aus jener Zeit geblieben. Die erste eine Folge von Bildern der nackten Laura (auf der Bank, in meinen Armen, unter der Dusche, ausgestreckt auf dem Diwan, in Gedanken), bis der allmählich anwachsende Dampf sie meinen Blicken entzieht. Ende. Weißbild. Die zweite ist die Wandmalerei im Gimnasio Moctezuma. Moctezumas unergründliche Augen. Moctezumas Hals, der aus dem Wasser ragt. Die Höflinge ... die Schwärme von Vögeln und Wolken, die mit dem Hintergrund verschwimmen. Die Farbe der Schwimmbadkacheln, sicher die traurigste Farbe, die ich im Verlaufe unserer Ausflüge gesehen habe, vergleichbar nur mit der Farbe mancher Blicke, Arbeiter in den Gängen, an die ich mich nicht erinnere, die es aber zweifellos gab." Blanes, 1984