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anne_hahn

Posted on 23.3.2020

Mein kleiner Buchladen – frische Bücher: In Weihnachtszeiten Weihnachten ist eine Angelegenheit, von der ich eigentlich nicht gern spreche. Einerseits weckt das schöne Wort so tiefe, heilige Erinnerungen aus dem Sagenbrunnen der Kindheit [...] Und andererseits ist "Weihnacht" ein Inbegriff, ein Giftmagazin aller bürgerlichen Sentimentalitäten und Verlogenheiten, Anlaß wilder Orgien für Industrie und Handel, großer Glanzartikel der Warenhäuser, riecht nach lackiertem Blech, nach Tannennadeln und Grammophon, nach übermüdeten, heimlich fluchenden Austrägern und Postboten, nach verlegener Feierlichkeit in Bürgerzimmern unterm aufgeputzten Baum, nach Zeitungsextrabeilagen und Annoncenbetrieb, kurz, nach tausend Dingen, die mir bitter verhaßt und zuwider sind, und die mir alle viel lächerlicher vorkämen, wenn sie nicht den Namen des Heilands und die Erinnerungen unserer zartesten Jahre so furchtbar mißbrauchten. Acht Seiten umfasst Hermann Hesses Abrechnung mit den Schaufenstern vor Weihnacht, welche am 11. Dezember 1927 erstmals im Berliner Tageblatt veröffentlicht wurde. Das vorliegende Insel-Büchlein zeigt und erzählt, was Hermann Hesse zwischen 1907 und 1956 zu Weihnachtszeiten dachte, dichtete und malte. Mich zog zunächst der mit leichtem Strich erfasste kahle Baum an, die Wahl der Blautöne auf dem Cover – ein Bild Hermann Hesses. Dass er Maler war, überraschte mich. Sieben Aquarelle enthält das Buch: Winterlandschaften, einen Weihnachtsbaum und einen Zimmerausschnitt mit Tisch und Kerze. Hier sehen wir eine Wand, links ein (verhängtes) Fenster, mittig rechts den Tisch, den Lichtkegel der brennenden Kerze. Ein kleines Bild, eine Studie, die mich angreift. Es könnte der Innenraum einer Karawanserei sein, ein Zimmer in einer Großstadt, eine Klosterzelle. Die Kerze ist viel zu groß für den Tisch, oder das Tischchen zu klein, das Fenster zu groß. Das Zimmer wirkt verzerrt, surreal – zeitlos, beruhigend und verletztlich zugleich. Leider fehlen Titel und Hinweise zur Entstehungszeit der Aquarelle. Im Nachwort erläutert Volker Michels die im obigen Zitat erkennbare und im Laufe seines Lebens anwachsende Abscheu Hesses am Weihnachtsfest. Im Verlauf des ersten Weltkrieges und während seiner Arbeit am Steppenwolf verschärfte sich seine kritische Haltung zum Ekel hin. Anfang 1915 begründete Hermann Hesse mit Gleichgesinnten die Deutsche Kriegsgefangenenfürsorge in Bern, welche bis 1919 Hunderttausende Internierte in französischen und russischen Lagern betreute. 1917 schrieb er in der Neuen Zürcher Zeitung: Wenn der Kriegsgefangene mir das hübsche Weihnachtspaket, das ich ihm schicke, ins Gesicht schmeißt und den sentimentalen Tannenzweig mit Füßen tritt, so hat er ganz recht. Ein überraschendes Weihnachtsbuch, welches auf vielen Ebenen Sinn und Unsinn des Festes hinterfragt, sich in Wort und Bild an winterlicher Landschaft labt und bis ins Nachwort kritisch bleibt, hier wird Hermann Hesse aus einem Brief vom Dezember 1925 zitiert – er schrieb an Hugo Ball, er wisse noch nicht, wo er das Fest zubringen werde, in einer Zürcher Kneipe oder drüben in Baden... Ich selber habe vor Familie und Weihnachten und Geschenken und allem Getue der verlogenen Sentimentalität des sogenannten Familienlebens einen solchen Ekel, daß ich nicht hingehen kann.

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