Isabella Caldart
Das Leben im Bushwick der siebziger Jahre ist – vor allem als junges Mädchen – mehr ein Versuch des Überlebens: Jacqueline Woodson zeichnet in ihrem lyrikartigen Roman „Ein anderes Brooklyn“ ein anderes Brooklyn, als wir es heute kennen Dass ein Buch einem Stadtteil gewidmet ist statt einer Person, ist eher ungewöhnlich. Ungewöhnlich auch deshalb, weil Bushwick, das Viertel, dem diese Ehre zuteilwird, in Jacqueline Woodsons „Ein anderes Brooklyn“ eher der Vorhölle gleicht. August, Woodsons Protagonistin und inzwischen auf Todesrituale spezialisierte Anthropologin, kehrt anlässlich der Beerdigung ihres Vaters nach zwanzig Jahren zurück in das Viertel, in dem sie aufwuchs. Die Erinnerung an ihre Teenagerzeit im Brooklyn der siebziger Jahre prasselt in vielen Bildern auf sie ein: Mitunter die verklärte Vorstellung des New Yorker Stadtteils, wie geprägt durch zahlreiche Filme auch wir sie haben, das nachbarschaftlich anmutende Leben in den Straßen, das bei Hitze aus den Hydranten sprudelnde Wasser. Zumeist aber die harte Realität, die Heroinsüchtigen und Vietnam-Heimkehrer, die toten Frauen, die frühe Sexualisierung der noch kindlichen Mädchen, die Armut und Hoffnungslosigkeit, jemals dieser Situation zu entfliehen. August ist acht, als sie mit ihrem jüngeren Bruder und ihrem Vater nach Bushwick zieht. Die Mutter lassen sie in Tennessee zurück, nachdem sie begann, mit ihrem in Vietnam gefallenen Bruder zu sprechen. Gigi, Sylvia und Angela heißen Augusts neuen Freundinnen. Sie entstammen ganz unterschiedlichen Familien, die eine gedrillt auf Erfolg, die andere von ihrer fast noch jugendlichen Mutter vernachlässigt, doch die Erfahrungen, die sie in Brooklyn machen, sind ähnlich. „Wir trugen Rasierklingen in unseren Kniestrümpfen und ließen uns lange Fingernägel wachsen… Doch Brooklyn hatte längere Nägel und schärfere Klingen.“ In kurzen Abschnitten, beinahe Fragmenten, erzählt Jacqueline Woodson von den Jahren dieser vier Mädchen, in denen sie viel zu früh gezwungen sind, erwachsen zu werden, gezwungen durch den Hunger, die Brutalität und die durchdringenden Blicke der Männer. Überall lauert Gefahr. Woodson gelingt es in wenigen Sätzen, ein lebendiges, atmosphärisches Bild des Viertels zu vermitteln, das so anders ist als die romantisierte Vorstellung von Brooklyn, die heutzutage alle haben, die diese Zeit nicht miterlebten. Obwohl „Ein anderes Brooklyn“ von einem Viertel berichtet, das von den Weißen fluchtartig verlassen wird und in dem nun Afroamerikaner und Latinos in ärmlichen Verhältnissen leben, geht es in dem Roman weniger um Rasse und Rassismus, als um Freundschaft, Erwachsenwerden und Sexualität, geschildert durch die Erinnerungen der Protagonistin, die sich teilweise widersprechen und weniger einer kohärenten Story und Handlung folgen, als assoziativ von einem Viertel zu erzählen, das so heute nicht mehr existiert. Struktur und Rhythmus des Romans erinnern an ein Prosagedicht, das der Geschichte einen fast traumhaften Ton verleiht. Durch die Reduktion auf kurze Absätze bleibt vieles ungesagt, was wiederum Raum für Interpretationen lässt. Fast schade, dass dieses dünne Buch so schnell gelesen ist. Und umso bemerkenswerter, dass Jacqueline Woodson nur weniger Sätze benötigt, um ein ganzes Lebensgefühl entstehen zu lassen. (zuerst veröffentlicht auf novellieren.com)