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Isabella Caldart

Posted on 23.3.2020

Ein feines Gespür für Sprache, ein tiefer Blick in die Seelen seiner Protagonisten: Kai Wieland überrascht in seinem Debütroman „Amerika“ mit einer literarischen Reife, die vielen erfahreneren Autoren oft fehlt, und beweist, dass die leisesten Geschichten manchmal die besten sind. Er zeichne ein Bild, keine Fotografie, heißt es zu Beginn des Romans. Er, das ist der namenlose Chronist, der in Kai Wielands Debütroman „Amerika“ – anders als der Titel vermuten lässt – in die schwäbische Provinz, genauer in das abgeschiedene Dorf Rillingsbach reist. Einen Abend verbringt er mit den wenigen Alten, die noch in Rillingsbach leben, am Tresen der Kneipe Schippen und lässt sich ihre Geschichten erzählen. Die Anwesenheit des aufmerksam lauschenden Chronisten zwingt die Leute dazu, sich fern von belanglosen, alltäglichen und zu oft wiederholten Stammtischgesprächen wirklich miteinander und mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und das ist gut, denn obgleich „Martha nicht viel über sich zu sagen hat, bedeutet nämlich keineswegs, dass es nichts zu erzählen gäbe“. Zu erzählen gibt es einiges, und langsam setzt der Chronist die Geschichte dieses vergessenen Dorfes zusammen. Trotz eines märchenhaft anklingenden Einstiegs in den Roman zeigt sich schnell: In Rillingsbach liegt einiges im Argen. Diese wenigen im Dorf und in der Dorfkneipe verbleibenden Menschen, Frieder, Martha, Alfred und Hilde, letztere mit ihren gut 60 Jahren die jüngste in der Runde, haben die Art von Geschichten zu erzählen, die gemeint sind, wenn vom „Mief der deutschen Nachkriegszeit“ die Rede ist. NS-Verherrlichung und GIs, ein möglicher Mordfall (oder doch ein Suizid?), eine Frau, die es in ihrer rebellischen Phase gar bis nach Heilbronn schaffte, ein wenig Hemingway und Micky Maus, über einiges davon wird im Schippen geredet, über vieles auch geschwiegen. Die vielen Widersprüche, in die sich die vier Rillingsbacher verwickeln, beweisen, wie unzuverlässig Erinnerungen sind, auch wenn die Bewohner dies nicht wahrhaben wollen: „In einem kleinen Dorf ist der gemeinsame Takt alles, denn Interferenzen machen ein Scheitern unausweichlich.“ Als alle Anekdoten erzählt sind, nähern sich die Kneipengäste und der Chronist langsam der wahren Geschichte an. Der Chronist hält sich dabei zurück, seine Aufgabe ist schließlich die reine Dokumentation, und so ist es mehr als passend, dass seine wenigen Kommentare in indirekter Rede wiedergegeben sind (bis auf eine Ausnahme, die inhaltlich keinen Sinn ergibt – was war da los?). Das vorherrschende Gefühl von „Amerika“ ist die Melancholie. Nach der Blütezeit des Dorfes in den Sechzigern ging es rapide bergab mit Rillingsbach, die Jungen ziehen weg, die Alten sterben weg, und den Zurückgebliebenen haben keinen anderen Zeitvertreib, als sich Tag für Tag im Schippen zu treffen und immer wieder den gleichen Schwank zu wiederholen. „Die Einsamkeit ist nie das Problem. Es ist nur dieses Gefühl, übrig zu sein“, sagt Frieder am Ende des Romans resigniert. Kai Wieland beweist in seinem Debüt „Amerika“ eine sprachliche Reife, die vielen Autoren selbst nach mehreren veröffentlichten Büchern noch abgeht. Und nicht nur das: Auch sein Blick in die Psyche seiner Protagonisten samt ihrem Kreisen um die Vergangenheit und der langsamen Annäherung an eine Wahrheit, die im Schwäbischen Wald verbuddelt schien, machen aus diesem Roman ein großes Werk. „Amerika“ ist ein im besten Sinne leiser und klassischer Roman, dem man trotz ihrer Verschrobenheit die Sympathie des Autors für seine Figuren anmerkt. Kaum zu fassen, dass Wieland Jahrgang 1989 ist und die Zeit, die er Martha, Hilde, Alfred und Frieder beschreiben lässt, nicht miterlebt hat. Denn in wenigen Romanen bekommt man ein besseres Gefühl für das Leben in gleich mehreren Jahrzehnten westdeutscher Provinz. Ein wirklich großartiges Buch. (zuerst veröffentlicht auf novellieren.com)

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