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SternchenBlau

Posted on 20.3.2020

Matroschka-Erzählung (fast) ohne Namen Dieses Buch ist in vieler Hinsicht eine ziemlich unangenehme Erfahrung und zwar, weil die Erfahrungen der Ich-Erzählerin mehr als unangenehm sind. Darum fand ich „Milchmann“ zum Großteil so grandios, weil es eben diese Erfahrung hautnah nachvollziehbar macht. Und daher kann ich das Buch auch sehr empfehlen, doch der Lesende darf zwar ein ungewöhnliches und literarisch gekonntes Buch erwarten, aber keines, dass es ihr:ihm leicht machen würde. CN / Content Note: Stalking, Gaslightning, (sexualisierte) Gewalt, Tod, Mord, Terrorismus, Tötung von Tieren Das formal Auffälligste ist wohl, dass die handelnden Personen konsequent keine Namen haben. Es ist also vom titelgebenden Milchmann die Rede oder in Abgrenzung zu ihm vom „echten Milchmann“, von „Kleine Schwestern“, „Fast-Freund“ oder „3. Schwester“. Die Personen werden endindividualisiert und in ihrer Funktion in der Gruppe geschildert. Denn in Nordirland in den 1970er Jahren sind die Menschen, folgt man Anna Burns Beschreibung auch über ihre Funktion innerhalb der Gruppe definiert, als über ihre individuellen Eigenschaften. Eigenschaften, die zu sehr von der üblichen Norm abweichen, sind dem Kollektiv suspekt, wie die Eigenheit der Ich-Erzählerin im Gehen zu lesen. Eine solche Gesellschaft begünstigt den Übergriff und so ist es auch die Grundhandlung, mit der die Ich-Erzählerin konfrontiert wird: Der Milchmann stellt ihr nach, ekelhaft, perfide. Stalking und Gaslightning finden statt, nein, das ist zu neutral geschildert, kriechen unangenehm beim Lesen in dir hoch und verunsichern dich. Wo soll man hin mit diesen Gefühlen? Der Ich-Erzählerin glaubt niemand. Isolation der Opfer ist auch eine Täterstrategie. Hier ist die schon im System angelegt. Und dann gibt es da noch dieses Gerücht, dass sie als Geliebte des Milchmannes markiert, so dass sie immer mehr in eine Ecke gedrängt wird. Davon ausgehend kommt die Ich-Erzählerin vom Hundertsten ins Tausendste. Dieses Zirkuläre, dieses Redundante ist Burns Konzept. Manchmal hatte ich das Gefühl, das Buch kommt nicht von der Stelle, denn manchmal dauert es 40 Seiten, ohne, dass die Handlung, die gerade geschildert wird, wie das dritte Aufeinandertreffen mit dem Milchmann, voranschreiten würde. Eingeschoben sind Überlegungen, Anekdoten, Erinnerungen, Analysen über das Viertel, die politische Situation, den Bruder von irgendjemanden. Dabei gibt es im Buchsatz kaum Platz zum Luftholen, weil es nur ganz selten Absätze gibt. Wie in einer Matroschka findet sich wieder und wieder eine neue Erzählpuppe. Es kommt mir so vor, als wären die ganze intellektuellen Überlegungen der Protagonistin dafür da, das Gefühl der Hilflosigkeit zu überspielen. Denn emotional durchsteigt sie nicht, was ihr angetan wird, nicht in diesen Momenten. Ihre Geschichte erzählt sie im Rückblick von vielen Jahren. „Milchmann“ ist daher auch ein feministisches Buch, es zeigt, wie sehr die Gesellschaft Frauen unterdrückt, und diese Strukturen auch Männern viele Freiheiten nimmt. Diese Spanne findet sich schon zwischen dem Sonnenuntergang des Covers, mit seinem Pink im Klischee eher weiblich kodiert, und dem „Mann“ im Titel. Anna Burns zeigt sehr eindringlich, dass uns solche gesellschaftlichen Zuschreibungen einschränken, ja letztendlich verdammen, und manchmal scheint kurz die Hoffnung durch: „Denn wenn es stimmte, dass der Himmel – der da draußen war, der nicht da draußen war, wie auch immer – jede Farbe haben konnte, dass alles alles sein konnte, dann bedeutete das auch, dass alles jede Farbe haben konnte, dass alles alles sein konnte, dass alles passieren konnte, jederzeit, an jedem Ort auf der ganzen Welt und mit jedem Menschen – wahrscheinlich stimmte das auch, wir hatten es nur nicht gemerkt.“ In vieler Hinsicht könnte dieses Buch überall spielen, wo gesellschaftliche Unterdrückung vorherrscht. Das wage Gefühl einer Dystopie lässt sich aber dennoch klar im Nordirland der 1970er Jahre verorten. Es ist wie mit der scheinbaren Namenslosigkeit, denn es gibt Namen. Diese markieren aber nicht individuelle Personen, sondern die Gruppenzugehörigkeit, Räume oder die Epoche, wie Kate Bush. Namen werden zu Chiffren, wie auch die Paramilitärs in Nordirland Chiffren verwenden, ebenso, wie die Gesellschaft die gesellschaftliche Funktion sieht und nicht das Individuum. Wir vergessen zu schnell, dass auch das vereinte Europa nicht frei von kriegerischen Auseinandersetzungen war. Die Situation in Nordirland hat sich glücklicherweise seit dem Karfreitagsabkommen. „Milchmann“ ist nach der Brexit-Abstimmung erst erschienen. Ab dem Tag danach ist unklar, ob dadurch nicht dieser alte Konflikt wieder aufbrechen könnte. Das Allgemeine findet sich im Speziellen und obwohl mit 40 Jahre von dieser Ich-Erzählerin trennen, fühlte ich mir nahe. Dies alles könnte gar keine erträglichere Lektüre sein, weil dieses Leben eben nicht erträglich war. Das ist allerdings mit ein Grund dafür, dass ich einen halben Stern bei meiner Bewertung abziehe, weil ich nachvollziehen kann, dass viele dieses Buch zu sperrig oder langweilig finden, einige es vielleicht sogar hassen könnten. Meine Empfehlung ist daher nur mit einer gewissen Warnung zu verstehen. Um die Gesellschaft zu beschreiben, werden immer wieder deren Klischees und Vorurteile geschildert. Das macht Burns fast immer sehr geschickt, weil dennoch die Haltung dahinter klar wird und sie diese Vorurteile damit zwar darstellt, aber nicht reproduziert. An einer Stelle bewahrheiten sich allerdings in Bezug auf Homosexualität diese Klischees und so werden sie unabsichtlich reproduziert. Das fand ich sehr schade und daher lande ich bei 4 Sternen. Fazit Zirkulär erzählt ist die Lektüre von „Milchmann“ eine Herausforderung, die sich für mich definitiv gelohnt hat. Eine Empfehlung für alle, die eine anstrengende Lektüre nicht scheuen, und komplexe literarische Konzepte mögen. Bitte unbedingt alle die Content Note beachten, die einer solchen bedürfen!

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