Bris Buchstoff
Freiheit muss man aushalten können In Shaker Heights funktioniert das Leben wie ein gut geschmiertes Uhrwerk. Die einzelnen Zahnräder der Gesellschaft greifen perfekt ineinander, kein einziges ruckelt – auch nicht, wenn das Rädchen nicht der absolut wohlhabenden Schicht angehört. Denn diese Schicht lebt auch heute noch nach den moralischen und ethischen Grundsätzen der Gründerväter des Ortes. Praktisch betrachtet sieht das so aus: Alles ist geregelt, es gibt faktisch kaum Konfliktlinien, die wohlhabenden Familien, die Zweithäuser vermieten an die nicht so wohlhabenden Einwohner von Shaker, verlangen keine horrenden Mieten, alle sind glücklich und zufrieden. Wirklich alle? Nun ja, wir kennen das, Teenager können durchaus zu Rebellion neigen und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass das jüngste Mitglied der Familie Richardson das Rädchen mit der Unwucht ist. Lizzy ist erstaunlicherweise das Kind der Richardsons, das trotz oder vielleicht eben wegen eines schwierigen Lebensstarts und der damit verbundenen Angst der Eltern früh starke Tendenzen der Abgrenzung zeigt. Doch erst als zwei Steinchen von außen dieses perfekt funktionierende Gefüge aus dem Tritt bringen, wird nicht nur Lizzy klar, dass man das wahre Leben nicht einfach in ein Regelwerk packen kann. Tatsächlich brodelt es in Shaker Heights. Unter der Oberfläche der absoluten political correctness tun sich auch innerhalb der Familien Risse auf, die städtische Gesellschaft spaltet sich an einem Adoptionsfall, der nicht theoretisch zu klären ist. Denn hier geht es um Emotionen, die man nicht durch logische Regeln unterdrücken kann, hier geht es um Bindungen, um Wünsche, um verzweifelte Kurzschlusshandlungen, die in einem milderen Licht und aus einer neuen Situation heraus betrachtet rückgängig gemacht werden müssen. Celeste Ng hatte bereits mit ihrem Debüt „Was ich euch nicht erzählte“ einschlagenden Erfolg – wer möchte, findet dazu zum Beispiel auf letustreadsomebooks eine Besprechung. An mir ging das Buch wohl wegen der Thematik vorbei und beinahe wäre das auch mit Kleine Feuer überall so geschehen, hätte sich nicht eine Weihnachtskarte nicht zustellen lassen und hätte der Verlag diese nicht noch einmal – gemeinsam mit dem Rohmanuskript – versandt. Wenn das mal kein eindeutiges Zeichen ist. Ich las an und konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Ähnlich wie bei Gabriel Garcia-Marquez Chronik eines angekündigten Todes ahnt man natürlich schon, worauf die Geschichte am Ende hinauslaufen wird – und wer Geschichten, die ihr Ende vorwegnehmen, nicht lesen möchte, der sollte dann eventuell die Finger von Kleine Feuer überall lassen, würde dabei aber auch ein Leseerlebnis der besonderen Art verpassen – doch weshalb und welche Verstrickungen zwischen den einzelnen Personen entstehen, welche Geheimnisse gelüftet werden oder nicht, das entwickelt Ng geschickt verknüpft. Tatsächlich geht es aber um eine ganz prinzipielle Frage: Kann man das Leben planen? Nun, natürlich kann man planen, doch ist das auch sinnvoll? Celeste Ng hat dazu in einem Interview mit dem Buchmarkt bereits Auskunft gegeben und ihre Absichten erläutert, was den Plot und die dahinterstehende Idee angeht. Eine Verfilmung ist auch schon angedacht. Für mich ist Kleine Feuer überall die grandiose Geschichte darum, wie sehr Freiheit, die sich manche nehmen und sie leben, die verunsichern, aufrütteln oder ins wahre Leben schubsen kann, die sich solcher Freiheit nicht bewusst sind. Einer privaten Freiheit, die es sich herausnimmt, nicht an allem, was gerade angesagt ist, teilzuhaben. Anders zu sein, weniger zu konsumieren, bewusster zu konsumieren, wenig zu besitzen. Manchmal wird das als ein Zeichen einer gewissen monetären Situation angesehen – Biolebensmittel kaufen, um sich abzusetzen von der Masse oder aber Dinge nicht anzuschaffen, weil man es sich nicht leisten kann. Dass dahinter aber vielleicht eine Philosophie steht, die man lebt, eine Freiheit von materieller Bindung, wird in fast allen heutigen Gesellschaften erst auf den zweiten, wenn überhaupt, Blick erkannt. Angst macht solche Freiheit vor allem denjenigen, die sich nicht mehr vorstellen können, wie es damals – vor nicht allzu langer Zeit – war, als noch nicht alles durch technische Hilfsmittel kontrolliert werden konnte. In welcher Zeit Ng ihren Roman spielen lässt, ist durchaus erkennbar an den kleinen eingestreuten – vergangenen – aktuellen Begebenheiten. Doch Inhalt und Erzählweise sind derart zeitlos, dass diese Geschichte aktueller nicht sein könnte. Ng wollte nach eigenen Aussagen einen Pageturner schreiben, das ist ihr meiner Meinung nach großartig gelungen. Die Figur der Mia, angelegt als alleinerziehende Mutter einer halbwüchsigen Tochter und Künstlerin mit ihrer Art zu leben und Dingen auf den Grund zu gehen, hat mich komplett überzeugt. Ihre Kunstwerke, die immer einzigartig und nie wiederholbar sind, zu sehen, dieser Wunsch wurde während der Lektüre immer stärker. Sie und ihre Tochter Pearl sind es, die alleine durch ihre andersartige Anwesenheit das oberflächliche glatte Gefüge ankratzen und mehr Wahrhaftigkeit ins Leben einiger Shaker bringen. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass auch die Shaker recht menschlich gestrickt und empfänglich für Skandale sind. „There is a crack in everything That’s how the light gets in. „ – diese überaus wahren und tröstlichen Zeilen stammen aus Leonard Cohens Anthem. Auch in Shaker Heights wird es Risse geben, doch für die einzelnen Personen – und gerade für die jungen Menschen dort – bedeutet das vor allem eines: das Leben dringt durch. Wenn auch nicht immer alles gut sein wird in deren weiteren Lebensverlauf, so wird auf jeden Fall alles bunter werden. Wahres Glück kann man nur erfahren, wenn man auch weiß, wie sich dessen Abwesenheit anfühlt. Ein weiteres Lesehighlight mit absoluter Empfehlung meinerseits. Und Celeste Ng hat noch eine Playlist erstellt … da lohnt sich das Reinhören.