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Bris Buchstoff

Posted on 14.3.2020

Das Leben ist eine tödliche Krankheit Menschen sind wie Eisberge: Du siehst die Spitze, der große Rest aber bleibt im Verborgenen. „ (S. 41) Sommer 1984 – es ist heiß. Holly Sykes, noch keine 16 Jahre alt, steht kurz vor dem Ende ihrer Schulzeit, als sie sich sicher ist, dass es Wichtigeres im Leben gibt, als die Prüfungen zu bestehen. Doch das sieht ihre Mutter ganz anders, und so fasst Holly einen folgenschweren Entschluss. Sie packt ihre Habseligkeiten – unter denen sich auch eines der vielen von ihrem jüngeren Bruder Jacko gemalten Labyrinthen befindet – und geht. Zunächst zu ihrem derzeitigen Dreh- und Angelpunkt namens Vinny, der jedoch nicht ganz so auf Holly fixiert zu sein scheint wie sie auf ihn. Aus einem vor Glück überschäumenden Teenager wird in nur ein paar Stunden eine Ausreißerin, deren Weggehen viel weitreichendere Folgen haben wird, als ihr lange Zeit klar ist … “ Macht wird verloren oder gewonnen, sie lässt sich weder erschaffen noch zerstören. Macht gehört nicht den von ihr Ermächtigten, sie ist nur ein temporärer Gast. Wahnsinnige streben nach ihr, viele geistig Gesunde ebenfalls, die Weisen aber fürchten ihre Langzeitwirkungen. Macht ist Crack für das Ego und Batteriesäure für die Seele. Macht kommt und geht, von Wirt zu Wirt, durch Kriege, Eheschließungen, Wahlurnen, Diktate oder reinen Zufall. Ob die Machthabenden der Gerechtigkeit dienen und die Welt neu gestalten oder blühende Landschaften in rauchende Schlachtfelder verwandeln und Wolkenkratzer zum Einsturz bringen, die Macht an sich ist immer amoralisch.“ (S.133/134) 1991 – Sieben Jahre nach Holly Sykes Ausbruch trifft Hugo Lamb auf eine alte Bekannte Hollys – Immaculée Constantin. Wer oder was genau sie ist? Eine gute Frage. Hugo Lamb jedenfalls fasziniert sie ebensosehr wie die Gedankenspiele über Macht. Etwas was er bereits über gewisse Menschen besitzt und einzusetzen weiß. Meist zu seinem Vorteil, nie aber zum Vorteil desjenigen, den er geschickt „lenkt“. Der Sterblichkeitsklausel, die das menschliche Leben beinhaltet, ist sich Hugo sehr bewusst, doch genau das ist es, was ihn zu seinen Manipulationen treibt: „Wir alle müssen eines Tages sterben. Bis dahin allerdings ist die Aussicht, andere zu treten, deutlich attraktiver, als selbst getreten zu werden.“ und dass es keinen Ausweg aus dieser Sterblichkeit gibt, steht für ihn in Stein gemeißelt. Mit schrägen Theorien über Kryonik oder anderem esoterischen Quatsch hat er nichts am Hut. Dafür lebt er zu sehr im Hier und Jetzt. Doch Immaculée Constantin ist schon zu lange auf ihrem Gebiet tätig, sie weiß genau, wie man Menschen zum Zweifeln bringt: „Sterblichkeit ist in Ihre Zellstruktur eingeschrieben, und Sie sagen, Sie seien nicht krank? Sehen Sie sich das Gemälde an. Sehen Sie genau hin.“ Sie deutet mit einem Nicken zu Anbetung der Könige. Ich gehorche. Für alle Zeit. „Dreizehn Personen, zählen Sie ruhig nach, wie beim letzten Abendmahl. Hirten, die drei Weisen, Verwandte. Betrachten Sie genau die einzelnen Gesichter. Welche der Personen glaubt, dass der neugeborene Knirps eines Tages den Tod bezwingen wird? Welche verlangt nach einem Beweis? Wer argwöhnt, dass es sich beim Messias um einen falschen Propheten handelt? Wer weiß, dass er sich auf deinem Gemälde befindet und beobachtet wird? Welche Person auf dem Bild beobachtet Sie?“ (S. 135) Spätestens nach dem zweiten Kapitel von David Mitchells großartigem neuen Roman Die Knochenuhren ist klar, dass hier wieder einmal alle Grenzen gesprengt werden. Mitchell hat schon mehrfach bewiesen, dass ihn konventionelle literarische Traditionen und Grenzen nicht kümmern, eher reizen, sie zu überschreiten. Und das tut er in diesem Fall durch eine breit angelegte Geschichte, die einen Genremix bietet, der mehr als ungewöhnlich aber perfekt durch ihn umgesetzt ist. Reine Erzähllust ist es, die uns Leser dazu treibt, Nächte durch zu schmökern. Jedes neue Kapitel zeigt uns eine neue Welt, eine neue Sicht. Immer aus der Ich-Perspektive einer Person, nie derselben. Die Erkenntnis, wer da nun spricht, stellt sich recht rasch ein. Die einzelnen Kapitel bilden letztendlich jedoch einen geschlossenen Kreis. Kapitel eins führt Holly Sykes ein, die für alle anderen Personen, die das neue Mitchell Universum zahlreich bevölkern, ein Verbindungspunkt ist. Ja, auch Hugo Lamb, der uns im zweiten Kapitel in das Leben einiger elitärer Studenten mit finanziell gesichertem Hintergrund Anfang der 1990er einführt, wird nicht gänzlich an Holly vorbeikommen. Wie silberne Fäden – oder Strings – ziehen sich die Verbindungen zwischen den Protagonisten durch Zeit und Raum und knüpfen ein Netz, vielleicht auch ein Spinnennetz, in das zu geraten nicht von Vorteil wäre. Einige Leser und Rezensenten bemängeln, dass Mitchell in seinem neuen Roman zu esoterisch, zu fantasylastig unterwegs sei. Doch genau das ist es, was mich so fasziniert: Er achtet nicht auf Regeln oder Erwartungen, sondern erzählt, wie es ihm gefällt. Weil er es kann – und hier ist können nicht im Sinn von, die Gelegenheit haben, sondern im Sinn von Könnerschaft gemeint. Aber auch der Leser muss etwas können: sich einlassen auf das Spiel. Hier ist der Weg das Ziel. Fragen erfahren Antworten, wenn auch nicht sofort, doch lässt Mitchell dem Leser genügend Raum für eigene Gedankenspiele und Entdeckungen und überrascht dabei immer wieder aufs Neue, was die Lektüre erfrischend und spannend macht. Neben Holly und Hugo Lamb gibt es natürlich noch weiteres Personal. Da wäre zum Beispiel in Kapitel drei, das im Jahr 2004 angesiedelt ist, Ed Brubeck – seines Zeichens Kriegsberichterstatter und mit Unterbrechungen Hollys Gefährte seit dem Sommer 1984. Seine Sicht der Dinge ist natürlich durch Erlebnisse und Situationen in verschiedensten Kriegsgebieten geprägt. Hier wird Mitchell sowohl global als auch politisch. Crispin Hershey hingegen ist Schriftsteller, der seinen früheren Ruhm durch ein Buch namens Vertrocknete Embryonen begründete und versucht diesen zu halten. In seinem, dem vierten Kapitel, das im Jahr 2015 einsteigt, geschieht eine Veränderung in der Romanstruktur, die dem aufmerksamen Leser den ein oder anderen Gedanken nach beendeter Lektüre durch die Gehirnwindungen schießen lässt: Hier erzählt nicht nur Hershey selbst, es scheint jemand anderes seine Geschichte zu erleben und als Hershey zu erzählen. Innerhalb eines Kapitels löst sich die Struktur der Metaebene des Romans, der aus 6 Erzählungen aus reiner Ich-Perspektive besteht, auf. Und das ist kein logischer Fehler, sondern ein kunstvoller Griff in die sich scheinbar nicht erschöpfen wollende Trickkiste Mitchells. In Kapitel 5 befinden wir uns nun im Jahr 2025. Hintergründe und Verbindungen zwischen den einzelnen Personen und Geschichten werden dadurch gelöst, dass Mitchell eine der Hauptfiguren, die auch Bezüge zu Mitchells früheren Werken aufzeigt, ihre eigene Geschichte detailreich erzählen lässt: Marinus. Was Marinus tatsächlich ist, soll hier nicht verraten werden, nur eines: Er – oder sie? – kennt Holly Sykes schon lange und weiß um vieles, was ihr nicht mehr bewusst ist. Das letzte Kapitel spielt im Jahr 2045 und wird, wie das erste, aus der Ich-Perspektive von Holly erzählt, womit sich ein Kreis schließt, eine Reise endet, damit eine neue beginnen kann. Man könnte noch so einiges über Verweise, Hintergründe, Struktur oder Sprache sagen. Doch es ist schwer, einen Roman der so sehr von allem spricht und dabei nie wirr ist, der die Genregrenzen überschreitet und trotzdem nie schwammig wird, in seiner Gänze durch einmaliges Lesen zu erfassen und dies auch noch klar zu transportieren. Und so wird es sicher nicht bei dieser einen Lektüre bleiben. Nebenbei bemerkt ist das Buch großartig in die deutsche Sprache übertragen worden. Euch allen kann ich nur raten: Lest dieses Buch, habt keine Erwartungen, lasst euch fallen und genießt! Denn: Der Weg ist das Ziel und „Damit eine Reise beginnen kann, muss eine andere Reise zu Ende gehen.“ – auch wenn das Verlassen des Mitchell-Universums eine gewisse Leere hinterlässt. Wer nicht in der Poesie lebt, überlebt hier auf der Erde nicht.“ (HALLDÓR LAXNESS)

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