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Bris Buchstoff

Posted on 14.3.2020

Die Schönheit unserer Seelen David Mitchells Werke sind nicht immer einfach – zumindest für mich. Das erste Buch, das ich von ihm las, war der Wolkenatlas, den wohl viele nicht nur als Buch, sondern auch als Verfilmung kennen. Ein komplexes Werk, verschachtelt aufgebaut, immer dann wenn eine der angerissenen Geschichten mich so gepackt hatte, dass ich unbedingt wissen wollte, wie sie sich weiterentwickelt, machte Mitchell mir einen Strich durch die Rechnung, begann eine neue Geschichte. Erst die dystopische Darstellung einer Nachkatastrophengesellschaft auf Hawaii hat einen Abschluss, bevor dann in rückwärtiger Reihenfolge wie zu Beginn des Romans – oder muss man vielleicht eher sagen, der vielen verschachtelten Romane – auch die anderen Geschichten eine Weiterführung erfahren. Box in a box in a box … Strukturell gut durchdacht, denn die Geschichten folgen einander nicht nur, sondern sind durch kleine Einzelheiten und Personen über die Zeiten hinweg miteinander verbunden. Das zweite Buch, das ich dann ohne jedes Zögern, quasi auf Lunge lesend inhaliert habe, war sein 2016 auf Deutsch erschienener Roman Die Knochenuhren. Hier gab er, anders als im Wolkenatlas, der zwar durchaus phantastisch gestaltet ist und Sci-Fi- und Dystopie-Strukturen beinhaltet, einen guten Schuss an Fantasy mit in die Handlung, die wieder über eine längere Zeit erzählt wurde und in die Zukunft reichte. Überaus fesselnd war das für mich und ich war regelrecht geplättet, als ich die Buchdeckel zuklappte. Mitchells Fähigkeit, Geschichten so zu erzählen, dass ich aktiv mitdachte, ja mitdenken musste, um die gesamte Botschaft zu decodieren, der Vorsprung, den er mir zum Teil verschaffte, um mir ein Erfolgserlebnis in der Lektüre à la „hab ich es doch gewusst“ zu spendieren, haben mich zum Fangirl gemacht. Deshalb habe ich mich wirklich sehr auf Slade House gefreut. Und ich kann sagen, nicht vergebens. Slade House wird vom Verlag als „raffiniert komponiertes Schauerstück“ angepriesen – das ist nicht falsch, aber vielleicht ein wenig untertrieben, denn Slade House ist viel mehr als nur ein gut geschriebenes Schauerstück. Es ist erneut ein Teil des übergreifenden Werkes eines mit großartiger Phantasie ausgestatteten Autors, der seine Weltsicht, seine Idee davon, was wir Menschen sind, was unsere Existenz bedeutet oder bedeuten kann, in jedem einzelnen Buch wieder und trotzdem immer neu darlegt. Dabei besitzt er wie kein anderer eine großartige Fähigkeit: Er hinterlässt in jedem seiner Bücher Hinweise auf die vorangegangen. Das ist ein wenig so, als wenn man sich irgendwo im Marvel Cinematic Universum befindet, in dem plötzlich aus allen Teilen der Galaxie die unterschiedlichen Helden auftauchen und einen kleinen Auftritt haben. Fixpunkte tauchen auf, die man wiedererkennt und die einen dazu bringen, die anderen Bücher aus dem Regal zu holen und nochmals zu lesen. Die Times bezeichnete Slade House als Einstiegsdroge zu Mitchells Werk. Das sehe ich etwas anders. Natürlich kann man diesen schmalen, viel zu schnell durchgelesenen Pageturner einzeln und als erstes Werk Mitchells lesen, doch mehr Freude macht das, wenn man zumindest Die Knochenuhren kennt und mochte. Wer mit Übersinnlichem, mit Schamanismus, dem Weltbild der Allverbundheit und einer Art von Seelenwanderung, die ich persönlich recht einleuchtend finde – die Seele kann sich nach unserem Ableben aufsplitten und Stücke von ihr finden sich in anderen, wiedergeborenen Seelen wieder – nichts anfangen kann, der wird an dieser Geschichte jedoch nur Freude haben, wenn er sich uneingeschränkt und ohne Vorurteile auf diese Lektüre einlässt. “ Etwas … sickert heraus und schwebt direkt vor meinen Augen, sieh nur: eine helle Sternenwolke, so klein, dass sie in meine Hand hineinpassen würde.[…]“ Mitchells Version des von Nietzsche als "Ewige Wiederkunft" grundlegend formulierten philosophischen Gedankens der unendlichen Wiederholung von Ereignissen und damit der höchsten Form von Lebensbejahung, die bereits im "Wolkenatlas" zum Ausdruck kam, wird in "Slade House" quasi formgebendes Element. Immer nach genau neun Jahren erscheint am Ende der schmalen, feuchten Slade Alley das leicht zu übersehende kleine schwarze Eisentor in der Mauer. Es hat keine Klinke, es hat kein Schlüsselloch, aber wenn man es berührt, schwingt es auf. „Etwas sickert heraus und schwebt in der Luft, rund, groß wie ein Golfball, direkt vor meinen Augen. Es ist fast durchsichtig, wie Eiweiß oder Gel, und darin schwimmen leuchtende Staubkörner oder Galaxien oder …“ Betritt man den Garten, der durch seine üppige Erscheinung weder zur Jahreszeit noch zur eher schäbigen, ärmlichen, ja heruntergekommenen, Umgebung passend erscheint, wird man von einem Fremden erwartet, es ist ganz klar, dass man hier sein muss. Etwas zieht einen an, macht es notwendig zu bleiben, wieder zu kommen. „Es verdichtet sich vor meinem Gesicht zu einer kleinen, transparenten Kugel. Winziger phosphoriszierender Plankton schwimmt darin. Es scheint also doch eine Seele zu geben.“ Durch den Garten führt ein Weg ins Haus. Für manche ist der Weg lang, für andere nur kurz, aber dafür ist der Aufenthalt im Inneren umso intensiver. Was alle Gäste, die zum Tag der offenen Tür – was hier in diesem Ausdruck alles mitschwingt! – eingeladen wurden, erwartet, ist eine Galerie von Bildern von Menschen, die vor etwas zu warnen scheinen. Die Treppe hinauf geht es, und dort dann durch eine Tür hinter das Geheimnis, das die Bewohner des Hauses offensichtlich verbergen. „[…] da, es schwebt in der Dunkelheit, direkt vor meinen Augen, eine durchscheinende, schimmernde Kugel, etwas kleiner als ein Billardball, und sie ist gefüllt mit Sternen. Es ist mein wahres Ich.“ Doch nicht nur die Gäste wechseln, auch die Bewohner des Hauses scheinen zu wechseln. Ob das alles real ist, ein Traum oder doch etwas ganz anderes, das müsst ihr selbst herausfinden. Über den Inhalt möchte ich nichts verraten, es macht einfach zu viel Spaß, dieses Buch selbst zu entdecken, eigentlich zu decodieren. Mich hat es dazu gebracht, mir die Knochenuhren noch einmal genauer vorzunehmen. Strukturen zu entdecken, Verknüpfungen zu lösen, Fährten zu folgen, das fasziniert mich, Es fordert mich heraus und wenn mir ein Autor nicht ständig erklärt, was ich zu entdecken habe, dann bin ich ihm dafür mehr als dankbar. Mitchell ist ein Meister im Fährtenlegen und das auf verschiedenen Ebenen. Seine literarische Auslegung der philosophischen „Ewigen Wiederkunft“ hat etwas sehr anziehendes. Man könnte Mitchell vorwerfen, Slade House wäre vielleicht nur ein Nebenprodukt der Knochenuhren, doch dafür ist es zu sehr in sich geschlossen. Obwohl es etwas fragmentarisches hat – nur oberflächlich betrachtet – kann man es gut im Universum der Knochenuhren verorten. Wie Mitchell es schafft, in einem Roman verschiedene sprachliche und erzählerische Stile zu vereinen, so schafft er es in seinem ganzen Werk, einzelne Teilstücke miteinander mühelos und elegant zu verzahnen. Dahinter muss ein größerer Plan, eine umfassendere Idee stehen. Bei den Knochenuhren hatte sich mir schon das Bild der silbernen Fäden – oder Strings – in den Kopf gebrannt, die über Zeiten und Räume die einzelnen Personen miteinander verbinden und in Kontakt halten. Slade House hat diesen Eindruck verstärkt und ich bin gespannt, ob wir noch mehr hören werden von Marinus …

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