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Babscha

Posted on 11.3.2020

August. Ferienzeit. Ein Sommerhaus am Lake Chautauqua im Staat New York. In festgemeißelter Tradition hat Emily Maxwell auch in diesem Jahr wieder ihre ganze Familie für eine gemeinsame Urlaubswoche eingeladen. Und alle kommen: Ihr Sohn Kenneth mit Ehefrau Lisa und den Kindern Ella und Sam, ihre Tochter Margaret mit Sarah und Justin und ihre Schwägerin Arlene. Wie schön. Könnte man meinen. Aber es ist anders. Nach dem Tod ihres Mannes vor einem Jahr hat Emily das Haus bereits gegen den Willen ihrer Familie verkauft und möchte die gemeinsame Woche eigentlich nur noch als eine Art „Abschiednahme“ zelebrieren. Das geht schief. Jahrzehnte alter unterdrückter und verleugneter Familienzwist kocht hoch und führt zu einer brodelnden Atmosphäre aus Ablehnung, Unverständnis, Aggression und Traurigkeit auf allen Seiten. Stewart O´Nan, der Meister der leisen Töne mit dem unnachahmlichen Blick für das Kleine, Bedeutungsvolle, entführt den Leser in seinem 700-seitigen Werk in die Welt einer an sich selbst zerbrochenen Familie, deren einzelne Mitglieder nicht unterschiedlicher sein können und die nur noch von gesellschaftlichen Konventionen zusammen gehalten wird, denen sich die verschrobene Mutter gerne und deren Kinder notgedrungen unterordnen. Hier Ken, der schwache Sohn, lebenslang von seiner übermächtigen Mutter dirigiert, ein Phantast mit künstlerischen Ambitionen, handlungsunfähig erdrückt zwischen massiven finanziellen Sorgen aufgrund seines Jobverlusts und seiner eigenen, sprachlosen Ehe mit einer ebenfalls komplizierten Frau, die nie einen Zugang zu ihrer Schwiegermutter gefunden hat. Dort Margaret, die von klein auf rebellische Tochter mit Hang zu Cholerik und Selbstzerstörung, kurz nach einer abgeschlossenen Alkoholikerkarriere und unmittelbar vor ihrer Scheidung stehend, ebenso verzweifelt auf der Suche nach einer Lösung ihrer finanziellen Probleme. Daneben die ungeliebte und unverstandene Mutter, empfindlich und stur, rückblickend auf ihr emotional unausgefülltes Leben an der Seite eines eigenbrötlerischen Mannes, der zuletzt ebenfalls nur noch Zuflucht vor ihr in seinen Hobbys sucht. Der Autor lotet in zahlreichen Erinnerungen und Rückblenden die komplizierten emotionalen Verbindungen der einzelnen Familienmitglieder untereinander bis in die tiefsten Tiefen aus und macht dem Leser damit deren jeweilige Gefühls- und Gedankenwelt, nicht zuletzt die Sicht der unmittelbar betroffenen und mit leidenden Kinder, transparent und nachvollziehbar. Wie oft bei O´Nan gibt es keinen wirklich Schuldigen und auch keine reinen Opfer, kein Schwarz und Weiß, dafür aber viel viel Grau. Alle Handelnden sind geprägt durch ihre individuellen guten wie schlechten Eigenschaften in Wechselwirkung zu ihrer Umwelt und hier der Familie. Gerade das macht den speziellen Reiz des Buches aus, es bleibt dem Leser letztlich selbst überlassen, auf wessen Seite er sich denn schlagen will. Neben all dem beschriebenen Elend gelingt es dem Autor aber auch diesmal wieder, mit seinen hellwach beobachteten, wunderbaren Beschreibungen von Natur und Umwelt wie auch der „kleinen Begebenheiten“, z.B. der plötzlichen, aber unerfüllten Liebe der jungen Ella zu ihrer Cousine, den Leser auf Nebenschauplätze zu führen, in die man einfach nur abtauchen kann. Ein schönes und entspannendes Buch für Leser, die die „langsame“ Erzählkunst des Autors lieben.

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