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geruede

Posted on 11.3.2020

Natürlich leben wir alle an den Küsten unsererselbst. Schauen hinaus in die scheinbare Unendlichkeit; tagein, tagaus. Wir tauchen ein, fischen uns Ideen und waschen uns in Unschuld. Doch wie viele von uns wagen den wirklichen Schritt, Segel zu setzen, den alten Gedankengestaden den Rücken zuzukehren, sich unter milden Winden auf die Suche nach neuen Küsten mit nicht gekannten Einblicken zu begeben. Wer traut sich denn schon, sich sich selbst auszuliefern? Dem geheimen Spiel ungeahnter Kräfte. Auf dem Ozean des Lebens kreuzen viele Gefährte. Große, kleine, bauchig träge, schmale, neu lackierte, prunkvolle, ärmliche, rote, schwarze, braune, weiße, rosafarbene, gelbe, geheimnisvolle, flinke, abgekämpfte, Kurs haltende, verloren gegangene und orientierungslos dahintreibende. In der Regel zwar in Grüppchen, fest miteinander vertäut, doch hin und wieder kommt es schon vor, daß ein Boot losmacht, während ein unlängst gesichtetes Boot am Verband anlegen darf. Einsam dahingleitende Gefährte sieht man allzu oft und wer hat nicht schon Zwei-Boot- Verbände passiert, bei welchen unweigerlich die Frage aufkam, wieso man nicht die Leinen einfach kappte und auf neuen Kurs geht, bevor der ganze Verband ins Unglück gestürzt wird. R.G.Quoyle mußte in Edna Annie PROULXs Roman Schiffsmeldungen genau jene Havarie seines kleinen entrissenen Familienverbands miterleben, als seine verdrehte Gattin sich die gemeinsamen kleinen Töchter schnappt, kurzerhand ablegt, um sich einem Dahergereisten anzuschließen. Am Ende dieser, für jeden empfindsamen Menschen, gruselige Episode steht Quoyle da, hält in jeder Hand eine Urne seiner nebenbei verstorbenen Eltern, während zwei verstörte Kinder jeweils an einem seiner Beine hängen und mehr brauchen, als er im Moment geben kann. Denn zu allem Überfluß ist er nun auch noch Witwer. Da taucht seine nie gesehene Tante auf und schlägt Quoyle nach einigen Tagen vor, sich ihrem rüstigen Schiffchen anzuschließen, sein Scheinleben im Norden des Staates New York aufzugeben und jene weiter nordöstlich gelegene alte Familienheimat namens Neufundland aufzusuchen, um fernab allem bisher Bekannten einen Neuanfang zu wagen. Neufundland, ein geheimnisumwitterter Ort, an welchem eine unsichtbare Brücke harrt, die weit in die Vergangenheit zurückreicht. E.Annie Proulx entfaltet in ihrem Roman ein bildkräftiges, fast schon plastisches Bild der Insel Neufundland, mit seinem unbändigen Klima mit einhergehenden Schneestürmen mitten im Mai, dem Menschenschlag, der dort lebt und auf ein ungemein reiches Sammelsurium aus Traditionen, bewährten Improvisationen, geheimnisvollen Riten und Abgründigem blickt; eines Ortes mit wirkmächtiger Magie, die überall und in allem ihre Spuren hinterläßt. Eines Ortes, der mich nicht mehr losläßt. Dabei fesselt PROULXs Art des Erzählens, die stellenweise tief in das Reich der Poesie hineinzureichen mag, andererseits nicht vor derberen örtlichen Sprachgewohnheiten zurückschreckt, durch ihr wirkungsvolles Pointieren. Ihre Kunst des sprachlichen Skizzierens weniger, aber wesentlicher Details versetzt PROULX in die Lage, mit knappen Worten eine Reaktion, ein situatives Element oder die Überraschung im Gespräch lebendig werden zu lassen. Der PROULXsche Erzählstil geht aber noch einen Schritt weiter, denn er besitzt etwas Unumstößliches. Alles, was Erwähnung findet, ist Fakt. Dadurch gewinnt man den Eindruck, nicht eine frei erfundene Geschichte zu lesen, sondern Zeuge real stattgefundenen Lebens und Erlebens an einem bestimmten Ort zu werden. Man identifiziert sich, wird zu einem körperlosen Gefährten jener Menschen, die nicht aufhören dürfen, der unbändigen, wechselgesichtigen Natur zu trotzen. Ein großartiges Werk, das Menschen an einem Ort begleitet, weit jenseits der Traumstrände und Megametropolen. Einem Ort, von dem mehr Schiffe fortsegeln, als anlegen.

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