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geruede

Posted on 11.3.2020

Wer kennt das nicht? – Das Gefühl, daß alles demnächst den Bach runtergehen wird und man daher schleunigst das Weite suchen sollte. Der Protagonist Joe Haak in John Ironmongers Buch „Der Wal und das Ende der Welt“, schon einige Schritte weiter, findet sich an den Strand des kleinen Ortes St. Piran in Cornwall gespült wieder. Wenn auch nur körperlich. „Es war eine unkonventionelle Anreise.“* weiß Jeremy Melon, der ortsansässige Naturalist zu berichten. Der geheimnisvolle Fremde wird aufgepäppelt und trifft, wieder hergestellt, auf freundliche, offene und hilfsbereite Menschen. In dem 307 Seelen starken Ort ist Joe ein Fremder, der es früher gewohnt war, stundenlang auf Bildschirme zu starren und nach Unternehmen zu fahnden, die plötzlich aufgrund globaler Verkettungen in eine Schieflage gerieten, während eine ganze Abteilung Händler auf seine Eingabe wartete. Als Mathematiker entwickelte Joe Haak eine vergleichende Software, die sämtliche Nachrichten aus Politik und Wirtschaft samt aller Kommentare vergleicht, um daraus Prognosen zu erstellen. Leider kommt das Programm zu dem Schluß, daß zwei zusammenfallende Faktoren die Zivilisation innerhalb von wenigen Wochen an den Rand des Zusammenbruchs bringen könnten. Doch diese Aussicht war nicht der Grund für seine überstürzte Flucht aus der britischen Finanzmetropole. Zunächst widerfahren ihm in St. Piran gleich zwei beinahe schon mythisch zu nennende Erlebnisse, denn tief im Inneren weiß Joe, daß ein Wal ihn vor dem sicheren Ertrinken gerettet hat, der nun einige Tage später selbst am Strand von St. Piran strandet. Und es wird im Allgemeinen als Joes Heldentat angesehen, daß der ausgewachsene Finnwal mit Hilfe von hundert Dorfbewohnern aller Altersgruppen wieder zurück ins Meer bugsiert werden konnte. Nun ist Joe jemand im Dorf. Nämlich der, der den Wal rettete. Der gestresste Mathematiker findet langsam Ruhe und fügt sich fasziniert in den gemächlichen Takt des Dorflebens ein. Doch nach und nach treffen beunruhigende Nachrichten ein, die von einer verheerenden asiatischen Grippewelle sprechen, während sich im Golf von Baran ein Konflikt globalen Ausmaßes zusammenbraut. Diese alarmierenden Neuigkeiten reaktivieren seine Fähigkeit, Zusammenhänge zu erfassen und langsam reift in ihm der Plan, einen gewaltigen Lebensmittelvorrat für den schlimmsten Fall im Dorf anzulegen. Er geht soweit, seine angesparten 52.000 Pfund Sterling in dieses Vorhaben zu investieren. Doch natürlich kann er ein solches Unterfangen nicht lange vor den neugierigen Dorfbewohnern geheim halten. „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger ist ein Hoffnungsschimmer im kälter werdenden Miteinander, denn das Buch geht der Frage nach, wie sich die Menschen im Falle eines Zusammenbruchs verhalten werden. Würde tatsächlich der brutale Egoismus das Zepter übernehmen? Oder würden die Menschen sich gegenseitig helfen und zur Seite stehen? Sich neu organisieren und jeder übernimmt einen notwendigen Teil der Arbeit, damit alle Anwesenden etwas zu essen haben? Während die Geschichte dieser Frage nachgeht, besticht das Buch mit seinem englischen Charme und den liebenswerten Eigenheiten der Dorfbewohner, die von Naivität über Genügsamkeit bis hin zur offenen Ruppigkeit reichen können. Dabei gelingt dem Autoren ein Höchstmaß an Authentizität und Glaubwürdigkeit der Geschehnisse sicherzustellen, indem er die Geschichte bereits in der Erinnerung der Ortsansässigen ansiedelt. Als schließlich die Lichter im Dorf ausgehen, hält dort niemand mehr den jungen, gut aussehenden Mann für plemplem. „Der Wal und das Ende der Welt“ bekommt einen Ehrenplatz in meiner Meeres-/Küstenbibliothek. Direkt neben Annie L. Proulx‘s „Schiffsmeldungen“, denn auf seine Weise ist es diesem ebenbürtig. Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger ist 2019 im S. Fischer Verlag als Hardcover erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite. *Seite 10

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