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fraeulein_alva

Posted on 11.3.2020

Rezension zu Robert Seethalers Roman ‚Das Feld‘ Rückblende der Toten Das Gedächtnis einer Stadt „Wenn das Wetter gut war, kam er jeden Tag. Er schlenderte eine Weile zwischen den Gräbern umher und setzte sich schließlich auf eine Holzbank unter einer krummgewachsenen Birke. Die Bank gehörte ihm nicht, aber er betrachtete sie als seine Bank. Sie war alt und morsch, niemand sonst würde einer solchen Bank trauen.“ ‚Das Feld‘ beginnt in einem ersten Kapitel mit der Beschreibung des in Paulstadt lebenden Harry Stevens, der seinen täglichen Besuch auf den Stadteigenen Friedhof macht. Jeden Tag verweilt er dort auf einer Bank auf dem Feld, wie der Friedhof unter den Paulstädtern genannt wird, und hört den Stimmen der Toten zu. Das Besondere an Harry Stevens ist, dass er die einzige, in dem Roman noch lebende Person ist, die den Leser zu begrüßen und in die Geschichten der Stadtbewohner hineinzuführen scheint. Insgesamt sind es 29 Stimmen, die auf ihre eigene Art über ihr Leben berichten, mal übermäßig lang und ausschweifend, aber auch teilweise nur mittels eines einzigen, aussagekräftigen Wortes. Robert Seethaler, ein vielfach ausgezeichneter österreichischer Schriftsteller und Drehbuchautor, schafft es seine Leser mit seinem neuesten Roman an ein Thema heranzuführen, was sich nur schwer fassen lässt: Was passiert nach dem Tod? Blickt ein jeder von uns wirklich noch einmal abschließend auf sein Leben zurück? Und wenn ja, was würden wir darüber denken? Diesen Fragen scheint der Autor in diesem Roman nachgehen zu wollen. In einzelnen Kapiteln lassen die Toten Paulstädter hierzu ihr jeweiliges Leben Revue passieren, 29 Menschenleben, von denen jedes ganz anders, aber mit anderen verbunden ist. Sie alle fügen sich zur Geschichte einer kleinen, fiktiven Stadt und zu einem Bild der Koexistenz zusammen. Seethaler schafft es, dass die Leser eine facettenreiche Gefühlsreise durchleben und in eine Vielzahl unterschiedlichster Stimmungslagen eintauchen. So beschreibt eine Figur die einzig wahre Liebe, ein anderer teilt Lebensweisheit mit, eine weitere Paulstädterin hatte 67 Liebhaber, ein unglücklicher Ehemann fährt schlussendlich vor seiner Ehe davon und der Bürgermeister gesteht seine korrupten Taten. Insgesamt ist dieser Roman, trotz seiner eher einfachen Sätze und überschaubaren Geschichten, keine leichte Lesekost. Die verworrenen und nicht sofort ersichtlichen Zusammenhänge und Figurenkonstellationen fügen sich erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammen, werfen immer wieder neue Fragen auf und lassen einen immer tiefer in die Handlung versinken. Der gelassene, fast schon sanfte Ton, mit dem der Autor durch sein Werk führen und mit dem er die Vielfalt des gelebten Lebens aufzeigen lässt, fesselt einen bereits auf den ersten Seiten und begleitet durch die gesamte Erzählung. So ist es nicht verwunderlich, den Leser am Ende des Romans derart vertieft vorzufinden, während er sich gemeinsam mit der letzten Stimme die Frage stellt: „Steht meine Bank noch? Und die Birke?“

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