Babscha
Das Buch: Rex und Rose Mary Walls mit ihren Kindern Lori, Jeannette, Brian und Maureen. Eine glückliche amerikanische Familie? Mitnichten. Es herrscht das Chaos. Hier der Vater, ein instabiler, zwiespältiger Charakter aus asozialen Verhältnissen, seit frühen Jahren schwerer Alkoholiker, Utopist und in höchstem Maße unzuverlässig, immer latent aggressiv und gegen alle gesellschaftlichen Normen; dort die Mutter, eine frömmelnde, weltfremde, labile und höchst egozentrische Persönlichkeit, die sich gefühlskalt und talentlos aus dem wahren Leben und einer eigentlich selbstverständlichen Verantwortung für ihre Familie nahezu vollständig in ihre Pseudointeressen, die Malerei und Schriftstellerei, verabschiedet. Und mittendrin die Geschwister, die von jüngster Kindheit an völlig vernachlässigt und ungeliebt alle nur denkbaren Facetten eines nicht vorhandenen Elternhauses und einer gnadenlosen Umwelt kennen lernen müssen. Die unglaubliche Geschichte ihrer Familie in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erzählt uns autobiographisch die zweitgeborene Tochter Jeannette in drastischer Deutlichkeit. Schon der Auftakt des Buches mit einer alles erläuternden Schlüsselszene spricht Bände: „Ich stand in Flammen. Das ist meine früheste Erinnerung“. Jeannette berichtet, wie sie im Alter von 3 Jahren alleine unbeaufsichtigt auf einem Stuhl vor dem Herd steht, in kochendem Wasser Würstchen erhitzt, ihr Kleid dabei Feuer fängt und sie anschließend schwerstverbrannt auf der Intensivstation um ihr Leben kämpft. Später, nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus und dieses Experiment am Herd wiederholend, wird von der Mutter kommentiert: „So ist es richtig. Immer gleich wieder in den Sattel steigen. Vor so normalen Sachen wie Feuer darfst du keine Angst haben“. Wie Nomaden und fast immer mittellos, da der Vater es nie lange in seinen Gelegenheitsjobs aushält und das Geld weitgehend vertrinkt, zieht die Familie von Ort zu Ort, immer auf der Flucht vor Gläubigern und der Polizei. Nur die Kinder, insbesondere Jeannette und ihr Bruder Brian, halten zusammen wie Pech und Schwefel und schaffen es tatsächlich, trotz permanentem Hunger und Anfeindungen durch ihre Umwelt, nicht nur irgendwie ihre Kindheit zu überleben, sondern wachsen über sich hinaus und übernehmen sogar weitgehend die Pflichten und Aufgaben ihrer lebensuntüchtigen Eltern. Bewertung: Was für ein tolles Buch! Die Autorin hat es geschafft, mich von der ersten Seite an mit ihrer Geschichte zu fesseln und emotional zu berühren. Sie versteht es meisterhaft, die Geschichte mit der Sprache und aus der Gedankenwelt eines heranwachsenden Mädchens zu erzählen und verleiht dem Buch damit eine gewaltige Ausdruckskraft. Glaubhaft und eindringlich wird das komplizierte Beziehungsgeflecht innerhalb der Familie, vor allem der unerfüllte Wunsch der Kinder nach Liebe und Zuneigung und der Umgang mit ihren Eltern, vor allem auch die ganz spezielle Beziehung zwischen Jeannette und ihrem Vater mit ihren gegenseitigen Abhängigkeiten, ausgebreitet. Man mag kaum glauben, dass die ganze Geschichte so passiert ist und wie stark Kinder in derart extremen Lebensumständen sein können. Eine absolute Leseempfehlung.