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Babscha

Posted on 9.3.2020

Homer und Langley Collyer sind Brüder und entstammen einer wohlhabenden New Yorker Oberschichtfamilie Ausgang des 19. Jahrhunderts, der Vater Mediziner, die Mutter künstlerisch ambitioniert, wohnhaft in einem herrschaftlichen Stadthaus an der Fifth Avenue. Beide Söhne studieren an der Columbia University, insbesondere der jüngere Langley ist neben einem unbändigen wissenschaftlichen Interesse auch der Musik und den schönen Künsten verbunden. Nach dem Tod der Eltern ca. 1930 erben die Brüder das Anwesen und richten sich dort häuslich ein. Ungeachtet ihres Vermögens und ihrer gesellschaftlichen Stellung und zusätzlich belastet durch die Erblindung Homers mit Anfang 50, die ihn immer mehr in die vollständige Abhängigkeit seines für ihn sorgenden Bruders zwingt, ziehen sich die Beiden in einer Mischung aus Verblendung, Trotz und Verachtung ihrer Umwelt über die Jahre immer mehr in ihr Domizil zurück und kappen alle gesellschaftlichen Bindungen. In krankhafter Sammelwut beginnt Langley, in dem riesigen Haus astronomische Mengen an Gerätschaften und Plunder jeder Art, von Klavieren über elektronische Bauteile bis zu einem kompletten Auto, anzuhäufen und stopft damit jeden Raum bis unter die Decke voll, so dass sich die Brüder selbst nur noch auf ausgeklügelten Pfaden im Labyrinth ihres eigenen Hauses bewegen können. Insbesondere kauft er über Jahrzehnte hinweg alle erreichbaren Zeitungen, die er für seinen Bruder einlagert, dessen mögliche Wiederherstellung seines Augenlichts er vehement postuliert. Die offene Abkehr von der Gesellschaft in Verbindung mit der Ablehnung, noch irgendwelche Rechnungen zu bezahlen, führen einerseits zu hohem Medieninteresse und Bekanntheitsstatus der Collyers, andererseits zu Anfeindungen und einem dauerhaften Kleinkrieg mit Behörden, Banken und Nachbarn. Völlig isoliert und vermüllt werden die Brüder 1947 zu guter Letzt tot in ihrem Haus aufgefunden. Soweit die Fakten, auf denen der Autor seine eigene Version des Lebens der Brüder Collyer zunächst weitgehend aufbaut. Was er allerdings mit einigen dramaturgischen Kniffen, wie z. B. der Verlagerung der Zeitebenen einige Jahrzehnte nach vorne in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts oder einer im ersten Weltkrieg durch Langley erlittenen Gasvergiftung als Ursache für seine fortschreitende geistige Verwirrung, daraus macht, ist schlicht sensationell. Die Blickrichtung einer entrüsteten Gesellschaft auf zwei selbsternannte Außenseiter wird im Buch komplett gedreht in eine sehr persönlich und emotional geprägte, oft sarkastische Erzählung zweier Lebensgeschichten mit der ureigenen, genau gegensätzlich gerichteten Beobachtung und Bewertung der Umwelt, berichtet durch den blinden Homer als Ich-Erzähler, der die Geschichte in völliger Einsamkeit und Dunkelheit in seinen letzten Lebenswochen auf einer Brailleschreibmaschine zu Papier bringt. Er ist der doppelt geschlagene, sensible Held des Buches, zuletzt einem derart unvorstellbaren Schicksal ausgesetzt, dass es einem bei der Lektüre nahezu den Hals zuschnürt. Ihm wie auch seinem problematischen und eigenwilligen Bruder nimmt sich der Autor hier an, verleiht ihnen Atem, eine Seele und vor allem eine gute, traurige Geschichte, die berührt und die wahren historischen Fakten, obschon während des Lesens immer irgendwo im Hinterkopf, quasi zur Nebensache degradiert. Wunderbar zu lesen die Kapitel, in denen die so unterschiedlichen, aber zutiefst verbundenen Brüder ihr Leben zunächst genießen, aufgeschlossen gegenüber ihrer Umwelt und dem weiblichen Geschlecht, wie sie anfangs ihr Haus mit Personal in eine Stätte für Tanztees und gesellige Hippietreffen öffnen, später eher unfreiwillig auch für Polizei, Feuerwehr und Gangster, bevor sie dann mit zunehmender Verschrobenheit Langleys bzw. Hilflosigkeit Homers bewusst und offenen Auges in ihre späteren desaströsen Lebensumstände abgleiten, die irgendwann zum unvermeidlichen Schlusspunkt führen. Ein aus meiner Sicht großartiges und gelungenes Werk, welches kraft seiner Worte den Leser insbesondere tief in die Gedanken- und Empfindungswelten des bedauernswerten Homer eintauchen lässt.

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