Babscha
Wieviel kann ein Mensch eigentlich aushalten? Diese Frage stellt man sich wiederholt bei der Lektüre dieses Buches, das direkt hineinspringt ins Leben der 80jährigen Herbjörg Maria „Herra“ Björnsson, die 2009 mit Krebs im Endstadium auf ihrem Bett liegt, in einer Garage irgendwo in Reykjavik, und ihr ganzes Leben noch mal an sich vorüber ziehen lässt. Ihre Söhne, aus ihrer Sicht allesamt Versager, lassen sie allein, haben sich schon vor geraumer Zeit das Vermögen der Mutter unter den Nagel gerissen und warten genau wie sie eigentlich nur noch auf das Ende. Eine klassische Familiengeschichte, könnte man meinen, wäre da nicht diese Kaltschnäuzigkeit, diese messerscharfe, abgeklärte Denke und die hierzu passende, streckenweise geradezu vulgäre Ausdrucksweise der Frau, was den Leser reizt, mehr von ihr erfahren zu wollen. Und dieser Wunsch wird gerne erfüllt. Aus vielen kleinen Puzzlestücken, im steten Wechsel der Erzählebenen zwischen damals und heute, formiert sich der Blick auf das armselige, schicksalhafte, immer fremdbestimmte Leben einer isländischen Frau, die schon als ganz junges Mädchen in den Wirren des zweiten Weltkriegs den Vater an das Naziregime und die Mutter an ihre Egeozentrik und ihren Selbsterhaltungstrieb verliert und sodann ganz allein auf einer jahrelangen Odyssee durch halb Europa irrt und die Kriegsgräuel inklusive massiver Vergewaltigungen am eigenen Leib erfahren muss. Und dann nach Kriegsende ignoriert und missverstanden auf eine zerstörte, auseinander gebrochene Familie voller Egoisten und Kriegsgewinnler stößt. Intensiv schildert der Autor die gut nachvollziehbare Entwicklung einer immer mehr auseinander driftenden Persönlichkeit, die in späteren Jahren zum Überleben ihr Innerstes nur noch über gnadenlosen Zynismus und eine völlig sexualisierte Hingabe an die eigentlich von ihr bis ins tiefste verachtete Männerwelt zusammen halten kann. Dass hinter all der Selbstzerstörung, der emotionalen Abkapselung und Gleichgültigkeit selbst den eigenen Söhnen gegenüber ein unfertiger, haltloser und entwicklungsunfähiger Mensch steckt, an dem sich familientypisch das Schicksal der Eltern wiederholt, kann nicht verwundern und hält die emotionale Waagschale des Lesers in der Beurteilung dieser Person damit irgendwie im Gleichgewicht. Ein Kunststück, wie Helgason bis zum Schluss den Spagat zwischen Düsternis und echter Beklemmung in den Rückblenden und fast schon slapstickartiger Situationsbeschreibung der heutigen Begebenheiten mit einer zwischen Euphorie und Verbitterung pendelnden Herra schafft, die mittels eines geliehenen Handys schon mal ihre eigene Verbrennung mit dem Krematorium terminiert und sich –in schöner Ausgewogenheit der Epochen- eigentlich nur noch an zwei Dinge klammert, nämlich ihren Laptop als Tür nach draußen mit lebhaft genutzten multiplen Facebookidentitäten und an das „Herz ihres Vaters“, eine seit dem zweiten Weltkrieg immer bei sich getragene scharfe Eierhandgranate als Bollwerk gegen die Gefahren des Lebens. Außergewöhnlich, lesenswert.