Babscha
Volksdorf? Ein Vorortstadtteil Hamburgs, wie man hier erfährt. Und seine Bewohner, was sind das so für Menschen? Ja, mit der Beantwortung dieser Frage hält Tina Uebel wahrlich nicht hinter dem Berg. Und ihre Antwort ist alles andere als schön. Am Beispiel von zwei Handvoll fiktiver, in wechselnden Episoden agierender Protagonisten erzählt sie von einer kaputten, erbarmungswürdigen Welt, in der sich hinter der Fassade gehobener Gutbürgerlichkeit menschliche Dramen am laufenden Meter abspielen. Da ist die alte Frau mit Alzheimer in Schussfahrt auf der Straße ins Nirgendwo und deren manische Tochter, die in ihrer Vorstadtvilla nur noch mit Medikamenten und Selbstsuggestion die nächtlichen Gespenster vor der Tür halten kann. Und ihre emotional vernachlässigte minderjährige Tochter, die als selbstverschuldetes Opfer eines massiven sexuellen Übergriffs von Mitschülern in einem Martyrium von Mobbing und Depression untergeht. Oder der hochsensible Punk, dessen martialisches Auftreten als eigentlicher Hilfeschrei nach Zuneigung ungehört verhallt. Wie auch der völlig verunsicherte und von seinem ignoranten Vater unverstandene Junge, der in Erkenntnis der eigenen Homosexualität am Ende keinen Ausweg mehr sieht als einen letzten fürchterlichen Schritt zu wagen, um endlich einmal zumindest kurzzeitig menschliche Nähe zu spüren. Ob die Situation in ihrer ganzen geschilderten Traurigkeit und Drastik in diesem Stadtteil wirklich realistisch ist oder nicht, sei dahin gestellt und ist auch egal. Eine persönliche Abrechnung war wohl auch nicht das Hauptanliegen der Autorin. Sondern in meiner Interpretation vielmehr, mit ihrem Buch exemplarisch noch mal den Finger in die Wunde heutiger als Normalität empfundener gesellschaftlicher Missstände zu legen, in denen oftmals ein weitgehendes generationsübergreifendes Kommunikationsvakuum herrscht mit elterlichem Anspruchsdenken an die eigenen Kinder oder alternativ völliger Gleichgültigkeit ihnen gegenüber, denen diese gerade in ihrer instabilen emotionalen Entwicklungsphase letztlich nichts anderes entgegensetzen können als Ablehnung und die Betäubung mit Alkohol und Drogen. Und die eindringliche Schilderung dieser Szenarien ist der Autorin hier, völlig ohne moralisierenden Zeigefinger und damit sehr realistisch und glaubhaft gelungen. Auch in ihrem neuesten Buch zeigt die Autorin einmal mehr ihr phänomenales, ganz spezielles sprachliches Ausdrucksvermögen, mit dem sie in der Lage ist, gerade durch die nonchalante, fast entspannte Darstellung beklemmendster menschlicher Ausnahmesituationen den Dingen die Spitze zu nehmen und eine Atmosphäre zu schaffen, die den Leser an einigen Stellen des Buches geradezu mitnimmt. „Last Exit“ Die Parallelität des Titels wie Inhalts zu Hubert Selbys gleichnamigem Brooklyn-Buch findet hier ganz bewusst statt. Zwei hervorragende Werke auf Augenhöhe, fürwahr.