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Babscha

Posted on 4.3.2020

Im 25. Jahrhundert hat die Menschheit endlich einen Impfstoff gegen den Tod gefunden. Jugend und Schönheit sind das Maß der Dinge, man wendet sich angeekelt von allem ab, was mit Alter und Siechtum zu tun hat und genießt, schön eingependelt in seinen Zwanzigern, sein ewiges Leben. Zumindest in Europa ist das so, wo mittlerweile 120 Milliarden Menschen in kilometerhohen Wohntürmen leben, die Armen lichtlos in winzigen Behausungen auf den unteren Ebenen und die reiche herrschende Klasse in riesigen Wohninseln über den Wolken. Europa ist zu einem einzigen Moloch verschmolzen, die Bauwerke früherer Zeiten sind entweder abgerissen oder einfach überbaut und versinken im Schmutz. Dem akuten Problem einer drohenden Überbevölkerung wird durch eine drastische, staatlich überwachte Geburtenkontrolle begegnet: Für jedes neugeborene Kind, das weiterleben soll, erhält ein Elternteil eine Spritze, die rapide Alterung auslöst und nach etwa zehn Jahren zum Tod führt. Leben gegen Leben also. Für die Durchsetzung dieser drakonischen Vorgabe ist die verhasste Schwadron der „Unsterblichen“ zuständig, die bei Bedarf in kleinen verschworenen Einheiten aktiv wird. Zu ihnen gehört auch Jan Nachtigall, die Hauptfigur des Buches. Als seine Einheit eines Tages den Auftrag erhält, den Führer der im Untergrund agierenden „Partei des Lebens“ mit seiner schwangeren Lebensgefährtin zu eliminieren, läuft alles anders als geplant und die Dinge geraten komplett aus dem Ruder. Nach seinem starken Erstlingswerk „Metro 2033“ legt Glukhovsky erneut einen sehr visionären, eindrucksvollen und insgesamt überzeugenden Roman vor. Die Welt eines komplett „überdachten“ Europa voller weitgehend degenerierter Menschen, die sich im Genussrausch gegenseitig auf die Füße treten und von einer skrupellosen Machtelite am Gängelband geführt werden, ist so anschaulich und spannend ausgearbeitet, dass man als Leser sofort hierin abtaucht. Auch die zerrissene Hauptfigur ist in ihrer ganzen Tragik bis zum überraschenden Ende sehr sorgfältig konzipiert und in Wechselwirkung zu den sonstigen Charakteren glaubhaft umgesetzt. Mit bald tausend Seiten ist das Buch allerdings etwas zu voluminös geraten, manche Ereignisse und Wendungen erscheinen leicht konstruiert und inhaltliche Wiederholungen stören streckenweise den Lesefluss bzw. gehen zu Lasten der Spannung. Hier hätte man etwas straffen können. Absolut überflüssig und überzogen auch die teilweise abstoßend geschilderten Brutalitäten der Eingreiftruppen, insbesondere gegenüber der weiblichen Hauptfigur. Keine Ahnung, was der Autor damit bezwecken wollte. Eine verrohte Welt mit Menschen ohne jedes Mitgefühl kann man auch anders transportieren bzw. sie sollte idealerweise im Kopf des Lesers selbst entstehen. Aus meiner Sicht reduziert so etwas eindeutig die literarische Klasse eines Werkes. Abgesehen von diesen Einschränkungen, die für mich einen Stern Abzug kosten, aber die gute, lesenswerte Fiktion einer Welt, wie wir sie wohl alle nicht haben wollen.

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