Bris Buchstoff
Califonia Dreamin' oder vielleicht doch nicht? Identität – Wurzeln – Herkunft: Drei Worte, die häufig miteinander verbunden werden. Heutzutage, so sagt man gemeinhin, leben wir in einer mobilen Gesellschaft. Doch sieht man genauer hin, woher man kommt, wird klar, dass diese Herkunft schon immer schwer zu greifen war. Von meinem Großvater väterlicherseits weiß ich, dass sowohl er als auch seine beiden Schwestern jeweils in einer anderen Stadt zur Welt gekommen sind. Der Grund dafür war der Beruf meines Urgroßvaters, der als sogenannter Herrschaftskutscher entweder immer mit der Familie, für die er arbeitete mitzog oder aber sich regelmäßig eine Neuanstellung suchen musste, die dann offensichtlich nicht in der gerade zur Heimat erkorenen Stadt zu finden war. Die Familienlegende schwört darauf, dass ersteres der Fall gewesen sei. Auch Joan Didion hat sich Gedanken darüber gemacht, woher sie kam und hat, ganz wie sie es so großartig vermag, ihre Nachforschungen, durch die sie auslotet, wo ihre eigenen Wurzeln liegen und was das heißt, in einem weitgefassten Bogen angestellt. Dabei ist ein erstaunliches Buch entstanden, das ausgehend von Didions Familiengeschichte – die sie vor allem anhand der weiblichen Linie erzählt – auch die Geschichte und das Wesen des US-Amerikanischen Staates erfasst, in dem sie geboren wurde: Kalifornien. Joan Didions Familie ist schon lange in Kalifornien ansässig. Sie selbst wurde in Sacramento geboren. Sie beginnt ihre Geschichte allerdings mit ihrer Urururururgroßmutter Elizabeth Scott: „[…] wurde 1766 geboren, wuchs im Grenzland zwischen Virginia und Carolina auf, heiratete im Alter von sechzehn Jahren einen Achtzehnjährigen, der an der Revolution und den Cherokee-Expeditionen teilgenommen hatte und Bejamin Hardin IV hieß, zog mit ihm nach Tennessee und Kentucky und starb in einem anderen Grenzland, dem Oil Trough Bottom am Südufer des White River in der Gegend des heutigen Arkansas, die damals zu Missouri gehörte.“ Leben in einer immobilen Gesellschaft sieht meiner Meinung nach anders aus – und somit zeigt Didion schon zu Beginn, dass unsere Gesellschaft heute wie damals davon geprägt war beziehungsweise ist, dorthin zu ziehen, wo es bessere Lebensgrundlagen zu geben scheint. Zeugnisse dieser Lebensgeschichten sind häufig Überlieferungen, von Generation zu Generation weitergereichte Gegenstände – im Fall Didions eine Schöpfkelle und in ihrer weiteren Familie ein Kartoffelstampfer – und natürlich Geschichten, die uns heutigen Menschen kaum mehr nachvollziehbar erscheinen. „Sonst weiß ich nichts über Elizabeth Scott Hardin, aber ich habe ihr Rezept für Maisbrot und India-Würze: Ihre Enkelin brachte diese Rezepte mit nach Westen, als sie 1846 mit dem Donner-Reed-Treck bis zum Humboldt-Sink reiste, um dann nach Norden in Richtung Oregon weiterzuziehen, weil sich ihr Ehemann, Reverend Josephus Adamson Cornwall. entschlossen hatte, der erste Wanderpfarrer der Cumberland-Presbyterian-Kirche in einer Gegend zu werden, die damals Oregon hieß.“ Zwei Dinge zeigt Didion so schon zu Beginn: Landschaften und ihre Benennungen änderten sich im Laufe der Zeit – auch durch Menschenhand – immer wieder, und Reisen wie die beschriebenen erforderten gewisse Eigenschaften: Mut, Unerschrockenheit, Tatkraft und auch Glück, um überhaupt ans Ziel zu kommen. Eigenschaften, die dem Bild Kaliforniens in der Welt auch heute noch zugrunde zu liegen scheinen. Kalifornien, das zeigt Didion anhand verschiedener Beispiele und einer an den großen Entwicklungslinien des Staates orientierten Chronologie, wurde durch die Besiedlung stark geprägt. Die Worte Binsenland, Sickergräben, Sammelkanäle, Staudamm oder auch Drainage wären mir nie im Traum in Bezug auf diesen Landstrich eingefallen – zu sehr hat sich mir das „It never rains in California“ eingebrannt. Und tatsächlich wurde die kalifornische Landwirtschaft auch im Jahr 2003, als „Woher ich kam“ erschien, stark subventioniert, gerade weil dort wasserintensiver Anbau stattfand, der ohne staatlichen Eingriff nicht hätte stattfinden können. Zum Beispiel der Anbau einer Klebreissorte, die in den USA unbeliebt, in Japan und Korea zwar bevorzugt wurde, aber deren Einfuhr aus Kaliforniern dort untersagt war. Widersprüche und Abhängigkeiten, die, wie Didion weiter aufzeigt, nie aufgehört und sich auf viele Bereiche des Lebens dort ausgeweitet haben. Während die örtliche Herkunft einen Teil der eigenen Identität ausmacht, besteht ein anderer Teil aus dem familiären Hintergrund. Häufig bahnen sich Fragen an die eigene Verbindung mit sowohl dem einen, wie auch dem anderen – örtliche wie familiäre Prägungen – nach dem Tod eines oder beider Elternteile. Und so denkt auch Joan Didion nach dem Tod ihrer Mutter vermehrt über das nach, was sie als kalifornisches Wesen erkennt. Der Tod der Eltern wirft einen auf sich selbst zurück – egal, in welchem Alter – da das, woher man kommt nur noch einem selbst bekannt ist: „[…] wer wird auf mich aufpassen, wer wird sich an die erinnern, die ich war, wer wird wissen, was jetzt aus mir wird, woher werde ich nun kommen.“ Und dabei wird ihr klar, dass ihre Mutter viele der Widersprüche Kaliforniens für sie verkörperte, vor allem die leidenschaftliche Meinung ohne wahre Überzeugung zu vielen Themen, die Sinnlosigkeit mancher Dinge oder Tätigkeiten, die sie mit einem „was macht es für einen Unterschied“ wegwischte, die Verteidigung eines uneingeschränkten Individualismus bei gleichzeitiger absoluter Ausdehnung individueller Rechte. Ambivalenzen, die vielen heutigen Menschen große Probleme bereiten und sich dennoch nicht einfach auflösen lassen. Nach dem Tod ihres Vaters, so schreibt Didion, machte sie weiter. Nach dem Tod ihrer Mutter war ihr das nicht möglich. Zu nah war der Verlust und die daraus erstehende Erkenntnis „Es gibt keinen Weg, wirklich mit allem fertig zu werden, was wir verlieren.“ Doch aus der Suche nach ihrer Herkunft entstand ein kluges, sehr persönliches und gleichzeitig generell umfassendes Buch. Sprachlich präzise und einnehmend, wunderbar von Antje Rávik Strubel ins Deutsche übertragen. Spannend, investigativ, gesellschaftskritisch und warmherzig. Eine Bestandsaufnahme ohne Wertung aber mit deutlichem Standpunkt.