Babscha
Fred Wiener ist ein geschiedener, übergewichtiger Mittvierziger ohne Ecken und Kanten. Er lebt mit seinem cleveren, aber ziemlich speziellen 13-jährigen Sohn Philipp in einer deutschen Stadt und arbeitet sich durch sein gleichförmiges ereignisloses Leben als Rentensachbearbeiter. Um der Eintönigkeit zu entfliehen und zur eigenen Sinnsuche macht er eine Ausbildung zum ehrenamtlichen Sterbebegleiter und erhält vom örtlichen Hospizverein dann auch seine erste Begleitung zugewiesen, nämlich Karla Jenner, eine sechzigjährige, von Pankreaskrebs gezeichnete Frau mit einer verbleibenden Lebenserwartung von nur noch wenigen Monaten. Dies ist die Ausgangslage eines wunderbaren, Herz und Seele bereichernden Buches, das man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Die Autorin schafft es, sich diesem hochkomplexen, schwierigen Thema in einer völlig wertfreien, fast lapidaren Weise zu nähern, indem sie die Dinge einfach laufen lässt, ohne den Leser auch nur unterschwellig mit irgendwelchen eigenen Voreingenommenheiten oder Grundsatzhaltungen beeinflussen zu wollen. In ihrer klaren, gefühlvollen, aber völlig im heutigen Leben verankerten Sprache, verbunden mit im exakt passenden Moment und in genau richtiger Dosierung aufkommenden Emotionalitäten setzt sie ihre Figuren gekonnt aus wechselnden Sichtweisen in Szene und in Wechselwirkung. Und bis zum Schluss bleibt das Ganze absolut realitätsnah, nüchtern, und läuft deshalb vor allem auch nicht auf irgendein konstruiertes großes Gefühlsfinale der Beteiligten hinaus. Ursächlich dürften hier auch die eigenen Erfahrungen der Autorin als Sterbebegleiterin sein. Und selbst der Humor bleibt bei dem Ganzen nicht auf der Strecke. Die Figurenzeichnung der Geschichte ist dabei absolut gelungen. Hier Fred, der unbeholfene, leicht gehemmte Durchschnittsmann im mittleren Alter ohne jede Höhen und Tiefen, der gerade durch sein Bemühen, es den Menschen generell und jetzt Karla im Besonderen recht zu machen, sich zunächst selbst unter Druck setzt, im Laufe der Geschichte aber an sich selbst wächst und Perspektiven gewinnt. Dann natürlich Karla, Künstlerin und Fotografin, bereits in jungen Jahren Mitte der Siebziger aus einer desolaten Familie ausgebrochen und durch die Welt getingelt, eine Frau, die, soweit es der Leser erfährt, wohl ein ziemlich wildes Leben gelebt hat und jetzt eingeholt wird von einer Krankheit, die ihr von ihrer gleichsam früh verstorbenen Mutter genetisch mitgegeben wurde. Und Phil, Freds eigenwilliger Sohn, der von Karla mit einem speziellen Auftrag betraut wird und -neben weiteren Beteiligten- als Kitt und Bindeglied für die nicht immer einfache Verbindung zwischen Fred und Karla funktioniert. Die Person der sterbenskranken Karla ist in ihrer Eigenart, ihrer Eigenwilligkeit und Abgeklärtheit faszinierend entworfen, gerade weil sie sich nahezu still und unnahbar immer streng kontrolliert und erst zum Ende hin in einer beeindruckenden Passage das emotionale Visier kurzzeitig etwas hebt, Schwäche, Angst und Traurigkeit zeigt. Ein hervorragendes, unbedingt lesenswertes Buch für Menschen, die an Lektüre über die letzten Dinge des Lebens ohne moralische Komponenten interessiert sind. Für mich ein absolutes Lesehighlight.