Profilbild von thesaint

thesaint

Posted on 1.3.2020

Juni 1922. Es fragt der Staatsanwalt: "Ihre derzeitige Adresse?" Rostov: "Suite 317, Hotel Metropol, Moskau." Staatsanwalt: "Seit wann wohnen Sie dort?" Rostov: "Ich residiere dort seit knapp vier Jahren." Staatsanwalt: "Und Ihr Beruf?" Rostov: "Für einen Gentleman geziemt es sich nicht, einen Beruf zu haben." Mit diesen Eingangszeilen hatte mich der Roman bis zur letzten Seite fest im Griff: Russische Geschichte, Hotels (ich LIEBE Hotels) und ein adeliger Protagonist (Ahhh! Ich habe eine Schwäche dafür!)... Der amerikanische Autor Towles (* 1964) legt mit seinem zweiten Roman ein Werk vor, dass neben überwältigendem Optimismus und leisem Humor auch Kunde von Klasse, Stil und Eleganz liefert: Die Geschichte erzählt von Graf Alexander Iljitsch Rostov, der von den Bolschewiken wohl aufgrund seines blauen Blutes an die Wand gestellt worden wäre, hätte er nicht in seiner Jugend ein feuriges Gedicht gegen den Adel und die Leibeigenschaft verfasst (nun... eigentlich... aber das wäre ein SPOILER!). Stattdessen wird er zu lebenslangem Hausarrest im Hotel "Metropol" verurteilt... Das "Metropol" ist ein zeitloser Platz in Moskau mit Blick auf das Bolschoi-Theater. All die Menschen und Ideen, die über die Jahrzehnte in das Hotel strömen, können dem Haus nichts anhaben (selbst der II. Weltkrieg vermag nur für kurze Zeit zu stören), doch sind sie für eine Konstante wichtig: Man erkennt diese in der Gestalt eines hochgewachsenen Mannes, der tagtäglich seinen Gewohnheiten und Ritualen folgt, ehe er nachts hinauf unter das Dach des Hotels in ein kleines Zimmer verschwindet, welches kaum Platz für seinen Louis XVI-Tisch und seine Elfenbeinlampe bietet. Der Graf macht während seines jahrzehntelangen Hausarrests das Beste aus seiner Situation und formt die Welt in dem Hotel nach seinen ästhetischen und intellektuellen Bedürfnissen. Er schließt mit einem entzückenden Mädchen namens Nina Freundschaft, die ihm viele Jahre später ihre Tochter Sofia anvertrauen wird. Er ist zuerst ein "Onkel" für das stille Mädchen, wird dann aber ihr "Vater" und sorgt dank seines familiären Hintergrundes und seiner Lebensphilosophie dafür, dass Sofia ihre künstlerischen Talente voll entfalten kann und ihr dadurch auch die Flucht aus Russland möglich wird... Amor Towles schwelgt in tollen Beschreibungen über das Hotel und den sich darin befindlichen Restaurants. Bei der Beschreibung der Speisen und Getränke beginnt man beim Lesen zu speicheln. Die Konversationen, die der Graf mit Parteibonzen, Journalisten, Arbeitern und Freunden aber auch mit Sofia führt, sind grandios ausgeführt und eine Wonne. Das Hotel, der Graf und all die agierenden Figuren werden mit russischer Geschichte umwoben und es lässt sich während des Lesens das Gefühl nicht vermeiden, ähnlich wie bei Wes Anderson's "Grand Budapest Hotel" hoffnungslos verzaubert zu werden. Ein absolut beglückendes Leseerlebnis. In Zeiten wie diesen lehrt uns der Graf, trotz allen Widrigkeiten optimistisch voranzuschreiten. Ein Roman über Menschlichkeit, Gelassenheit, Güte und Herzenswärme sowie Esprit und Klugheit gepaart mit kleinen Schwächen. EINE PFLICHT!

zurück nach oben