Mila
Es ist ein gewöhnlicher erster Schultag in einer siebten Klasse, der Lehrer macht seine üblichen Lehrerjokes und die Motivation ist nicht gerade auf dem Höhepunkt. Dann steht Pierre-Anthon plötzlich auf und verlässt mit diesen Worten das Klassenzimmer: >>Nichts bedeutet irgendwas. Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden.<< (Seite 9) Der 14-jährige Philosoph sitzt von nun an täglich in einem Pflaumenbaum, bewirft seine Mitschüler*innen mit Pflaumen und schreit ihnen nihilistische Parolen zu. Seine Gedanken sind näher betrachtet gar nicht uninteressant. >>Alles ist egal. Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben. Und so ist es mit allem.<< (Seite 11) Seine Mitschüler*innen ärgern sich über Pierre-Anthon und beschließen, den Jungen vom Baum herunterzuholen. Sie wollen ihm zeigen, dass er Unrecht hat und es sehr wohl Bedeutsames gibt. So beginnen sie, Dinge mit Bedeutung zu sammeln. Die Kinder gehen von Haus zu Haus und tragen im alten Sägewerk einen kleinen Berg der Bedeutung zusammen. Dann merken sie jedoch, dass diese Dinge fremder Menschen für sie selbst vollkommen bedeutungslos sind. Die Klasse drängt Dennis seine geliebten "Dungeons & Dragons"-Bücher auf den Berg zu legen. Davon gar nicht begeistert, bestimmt er, dass Sebastians Angelrute auf den Berg soll. Dieser wiederum zeigt auf Richards Fußball und Richard auf Lauras Papageienohrringe. Agnes, die Ich-Erzählerin der Geschichte, muss ihre grünen Sandalen abgeben, die sie große Überzeugungskraft kosteten. Das ist ihr zu viel – sie fordert Revanche und denkt sich etwas ganz Besonderes für Gerda aus. Wie du mir, so ich dir! Die Kinder schaukeln sich gegenseitig hoch. Sie sind beleidigt, dass sie ihr Lieblingsding abgeben mussten und denken sich deswegen für die anderen noch fiesere Aufgaben aus. Selbst, als es um die "Unschuld" eines Mädchens geht und um den Finger eines Jungens: Die Klasse geht immer weiter und lässt die Suche nach der Bedeutung eskalieren. "Nichts" wird oft mit "Die Welle" (Morton Rhue) und "Herr der Fliegen" (William Golding) gleichgestellt, was ich jedoch nicht verstehe. Die Ausgangssituation von "Nichts" ist komplett unrealistisch. "Die Welle" behandelt ein Sozialexperiment in der Schule, das aus dem Ruder läuft. "Herr der Fliegen" erzählt die Geschichte einer Gruppe (vor-)pubertärer Jungs, die durch einen Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel festsitzen und beginnnen, sich nach kleineren Streits zu bekriegen. Zwei Szenarien, die so auf jeden Fall passieren könnten. Würde ein*e Schüler*in plötzlich den Unterricht verlassen, sich auf einen Baum setzen und schwadronieren, nichts hätte eine Bedeutung – wären sofort Lehrkräfte, Psycholog*innen und lauter Erwachsene zur Stelle, die das Kind vom Baum herunter holen. Gut, vielleicht wäre die Situation im Erscheinungsjahr 2000 noch ein klein wenig anders gewesen, aber, dass sich kein Mensch für Pierre-Anthon interessiert? Kann gar nicht sein! Mit kindlicher Naivität Es gibt allerdings auch eine Sache, die mich beeindruckte: Wie unreflektiert können Kinder sein? Ihr seid mindestens 13 Jahre alt, wieso hinterfragt ihr nichts? Wieso versucht denn niemand, die Notbremse zu ziehen? Jan-Johans Finger ist voller Bedeutung, also muss er abgeschnitten werden. Jaa, hmm, schon irgendwie schade, aber da kann man nichts machen. Passiert halt ... Ähm, hallo? Janne Teller sieht ihre Geschichte als modernes Märchen mit seiner eigenen Logik, das uns Einsichten in unsere eigene Wirklichkeit vermitteln kann ("Zeit" Interview mit Janne Teller). Generell bin ich auch dabei, wenn es gilt, durch fiktive Geschichten Augen zu öffnen. Aber wenn ich beim Lesen nur daran denken muss, wie absurd das Ganze ist, dann ist das Thema vielleicht korrekt gewählt, aber die Umsetzung missglückt. Immerhin wurde die Geschichte im Sprachstil einer Siebtklässlerin erzählt, sodass eine gewisse Authentizität bleibt. FAZIT: Romane, Krimis, Thriller sind zur Unterhaltung da. Bücher wie "Die Welle" oder "Herr der Fliegen" sollen die Augen öffnen und zeigen, wie stark sich Gruppendynamik auswirken kann. Und "Nichts"? Unterhält nicht und gibt höchstens auf den Weg, dass die Suche nach der Bedeutung und dem Sinn des Lebens nicht ganz einfach und für alle unterschiedlich ist. Ansonsten lässt es mich nur verstört und enttäuscht zurück. Liebe Lehrkräfte, tut euren Schüler*innen den Gefallen und nehmt eine andere Schullektüre. Wie wär's zum Beispiel mit "Spinster Girls" von Holly Bourne?