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Diese Satire, Groteske, kann ich als Hörbuch extrem empfehlen. Der Roman ist bitter-bitter-böse, schon auf Papier. Aber was Christoph Maria Herbst daraus macht, ist einfach genial. Soll man lachen – oder bleibt einem das im Halse stecken? Manchmal habe ich brüllend gelacht, ein anderes Mal gallig geschluckt. «Er ist wieder da» – Timur Vermes, man kennt seinen beißenden Humor. Er schreibt über Dinge, über die man keine Witze machen darf, bricht Tabus. Darf man nicht über Privatsender herziehen, über Reality-TV? Natürlich – und das hat er ja in «Er ist wieder da» hervorragend gezeigt. Aber darf man… und er hat es wieder getan! Diesmal geht es um das Thema Flüchtlinge und unseren verlogenen Umgang mit diesem Thema. Als die deutsche Starmoderatorin Nadeche Hackenbusch, ein C-Sternchen am Moderatorenhimmel, verdammt hübsch, aber ungebildet, dumm-naiv, mit ihrer Sendung über Flüchtlinge an Quoten verliert, soll die Serie eingestellt werden. Jemand im Team hat die rettende Idee: Flüchtlinge die angekommen sind, ja gut – aber wie sieht es in Afrika aus, wie leben die Flüchtlinge in den Lagern dort? Die selbstverliebte Nadeche lässt sich überreden. Man verspricht ihr Berühmtheit, die zweite Schreinemakers zu werden. Also eben Afrika – was tut man nicht alles für seinen Ruhm. An ihrer Seite steht Astrid von Roël, eine Journalistin eines Frauenjournals, die gerade eine Story über Nadeche schreiben soll. Sie begleitet sie. In diesem riesigen Lager braucht es einen Führer, der extra gecastet wird, einer der Sympathiepunkte beim Zuschauer bringt. Lionel bekommt den Job. Anfangs ist ihm Nadeche suspekt, ihr Englisch ist kaum zu verstehen, auf jeden Fall nicht oxfordkompatibel. Das Publikum zu Hause wird durch das Lager geführt: Wasser zu besorgen ist ein Kraftakt, da fließt nichts aus dem Hahn. Hätten wir da ein nettes Rezept, das die Zuschauer nachkochen könnten? Klar, kann man zeigen, wie man aus Wasser, Bohnen und Maismehl jeden Tag die gleiche leckere Mahlzeit anrichtet. Mal zuerst Bohnen zufügen, am nächsten Tag mit Maismehl beginnen, da kommt Abwechselung auf. Doch dann sieht Lionel in der hübschen Frau die Gelegenheit, sein Ziel zu erreichen: Deutschland. Eine Liebesgeschichte spinnt sich an. Doch leider sind auch diese Sendungen schnell ausgelutscht. Ende. Nadeche macht Lionel klar, dass sie ihn nicht einfach mitnehmen kann. Der junge Afrikaner hat die zündende Idee: Was nützt das Warten in der Wüste? Wenn man ein Ziel hat, muss man es anpacken. «I swear you: Not with us!» (Nadeche Hackenbusch) Seine Idee: 150.000 Flüchtlingen gehen begleitet von einem Fernsehteam, zu Fuß auf dem Weg nach Deutschland. Das Fernsehpublikum kann die Karawane verfolgen. Lionel kontaktiert einen Schlepper. Wie soll man das organisieren? Die Menschen brauchen Essen, Wasser, einen Schlafplatz, müssen die Handys aufladen. Wie werden die Länder reagieren, wenn sie die Grenze überschreiten wollen? Das ist eine völlig durchgeknallte Idee, sagt der Schlepper. Er organisiert nichts gratis. Ein logistisches Problem. Lionel hat einen Plan, Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Das ist in dieser Satire genial und ungeniert beschrieben, mit allen Komplikationen, die auf dem Weg zu lösen sind. Der Marsch nach Europa beginnt, die Schöne und ihr Robin Hood, ein Liebespaar als Kopf von Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben – sie wagen alles. «Der Zuschauer ahnt, dass es hier Tote geben könnte. Tote! Weil. Wir. Mit. Der. Kamera. Dabei. Sind.» «Auf der Flucht» wird umbenannt in «Der Engel im Elend». Die Flüchtlinge werden zum Quotenhit. Der Sender liefert Live-Berichterstattung, sie brechen Zuschauerrekorde, Werbemillionen füllen die Konten, Astrid von Roël schwimmt auf der Erfolgswelle mit, schreibt täglich ihre Blogeinträge für die Illustrierte, sendet Fotomaterial und Artikel für das Blatt, blubbert in Schmalzprosa. Eine Stiftung entsteht. Und alle hängen ihren Träumen nach, hüben wie drüben: Hinauf auf der Leiter im Sender, Führungspositionen, berühmt sein, umworben sein, Bücher schreiben, Biografien, Geld scheffeln, bei Lanz auf dem Stuhl sitzen. Lionel träumt von einer Ziegenherde – ob es schafft, sich in Deutschland eine zu verdienen? Wie viel Ziegen braucht wohl ein Deutscher, um seine Familie durchzubringen? Jeder Beteiligte schwappt mit auf der Erfolgswelle. «Sensenbrink steht auf und geht zum kleinen Kühlschrank. Er holt sich einen Saft heraus und entfernt den Kronenkorken mit dem Flaschenöffner. Er kehrt zum Schreibtisch zurück, setzt sich und stellt die Flasche neben das Telefon. Vor einem oder anderthalb Jahren hat der Sender der Belegschaft den Saft gestrichen. Und das Mineralwasser.» Innenminister Joseph Leubl ist besorgt. Das Auswärtige Amt versucht, MyTV zu bewegen, die Sendung einzustellen. Die lassen sich nicht von der Politik hineinreden. Dann marschieren sie eben. Ägypten, Syrien, Rotes Meer, Israel, Jordanien, Türkei … da kommen die nie durch. Panzer werden den Flüchtlingen den Weg versperren. Die ganze Sache ist beunruhigend, aber nicht dramatisch, meint der Bayer Leubl – wozu hat man Verbündete. Der Sender ergeht sich in Rührseligkeit, für jede Sendung muss es ein Thema geben – das Publikum muss emotional an der Stange gehalten werden. Sensenbrink hat alles im Griff, das Team bringt gute Ideen. Sensenbrink ist der Star bei MyTV. – Hier wird jeder von den Ereignissen überrollt, Sender, Politik … die glauben, sie haben alles im Griff. «Wie wird die Sendung enden?» Der Roman ist böse, grotesk, bedient sich als Satire sämtlicher Klischees – was in diesem Fall in Ordnung ist, um die Geschichte auf die Spitze zu treiben. Am Fernseher weint das Publikum mit den armen Menschen in Afrika. Doch was geschieht, wenn die Karawane näher rückt? Hatte Timur Vermes einen kompletten Plan für das Skript? Oder ist das Ende beim Schreiben einfach passiert? Es war mir ehrlich zu grotesk. Aber möglich ist es. Ein großartiger Roman, der mir ganz am Ende mit einem Krümelchen die Suppe leicht versalzte. Geschmack. Bei der Figur Nadeche hatte ich die ganze Zeit Verona Feldbusch vor Augen – wieso eigentlich, denn Verona spricht anständiges Englisch und muttersprachliches Spanisch. Reale Figuren springen hin und her im Kopf, auch bei den Politikern. Da siehst du XY vor dir, schrecklich – sicher sieht jeder etwas anderes. Ich kann das Buch diesmal absolut als Hörbuch empfehlen, denn Christoph Maria Herbst spricht das so genial, wie man den Text niemals lesen könnte. Dialekte, Lispeln, Dumm-Speach, Selbstbeweihräucherung, Plapper-Prosa – das kann man nicht lesen – das muss man hören – große Kunst. Für dieses Hörbuch gebührt Christoph Maria Herbst ein Hör-Erlebnis-Preis, 10 Sterne für den Schauspieler. Letztendlich ist der Roman gar nicht zynisch, er ist recht real – warum ist noch niemand in Afrika auf die Idee gekommen? Zynisch sind wir Europäer – wie wir mit dem Flüchtlingsthema umgehen, Timur Vermes hält uns lediglich den Spiegel vor das Gesicht. Timur Vermes wurde 1967 in Nürnberg als Sohn einer Deutschen und eines Ungarn geboren. Er studierte in Erlangen Geschichte und Politik und arbeitete anschließend als Journalist und Ghostwriter. Er schrieb bis 2001 für die Abendzeitung und den Kölner Express und später für mehrere Magazine. Sein 2012 erschienener Roman Er ist wieder da ist eines der erfolgreichsten deutschen Debüts der letzten Jahrzehnte.