Ramona Kielfeder
Ich habe schon einige Dystopien gelesen, die, wenn man es allgemein formuliert, alle erst nach einer großen Katastrophe ansetzen. Dann, wenn sich das Machtgefüge schon zugunsten einer kleinen, elitären Gruppe verschoben hat. Dann, wenn die Menschen sich schon lange mit den Folgen jener mysteriösen Katastrophe arrangiert haben. „Ein Jahr voller Wunder“ ist da anders. Eben war die Welt noch in Ordnung, doch plötzlich beginnt die Zeit sich zu verändern. Die Tage dauern immer länger. Da hat man nicht mehr 24 Stunden, sondern erst 25 und dann plötzlich 48. So dehnt die Zeit sich immer mehr aus. Wie oft hat man sich nicht schon gewünscht, ein Tag solle lieber 48 Stunden haben, damit man auch mal wirklich alles erledigen könne. Aber haben wir uns auch mal Gedanken gemacht, was dann wirklich passieren würde, wenn die Zeit sich so sehr verschieben würde? Dabei legt die Autorin ihr Hauptaugenmerk weniger auf das Wie und das Warum, mehr auf die ganze kleinen Details dazwischen. Es ist nicht wichtig, wieso die Drehung der Erde sich verlangsamt. Es ist wichtig, die Ehe von Julias Eltern zu verfolgen, die sich an einem Wendepunkt befindet. Es ist wichtig, Julia selbst Gehör zu verschaffen, als sie das erste Mal mit dem Erwachsenwerden hadert. Der Schreibstil der Autorin ist sehr liebevoll, sehr eingehend und detailreich. Das Buch schlägt eher sanfte Töne an, Gewalt und Blut lässt die Autorin außen vor. Sie punktet durch diesen unvergleichbaren Stil, der mich sehr berührt hat. Sie schafft es, die Gefühle und Emotionen jeder einzelnen Person glaubhaft zu transportieren. Manchmal war ich den Tränen nahe, weil ich mich so sehr mit den Charakteren verbunden fühlte. Natürlich ist die Geschichte meist sehr melancholisch und auch eher weniger durch schöne Dinge geprägt. Man muss die „Wunder“ suchen. Vielleicht das Wunder, dass Julia sich verlieben kann in einer Zeit, die von Panik und Verzweiflung geprägt ist. Vielleicht das Wunder, dass ihr Vater doch nochmal nachdenkt. Vielleicht das Wunder, dass ihre Mutter zwischen ihren Depressionen auch versucht zu kämpfen. Es sind die ganz, ganz kleinen Wunder. Nichts Großes. Es sind ja auch nur die kleinen Geschichten, die Karen Thompson Walker hier erzählt. Die Geschichten kleiner Leute, die versuchen, sich mit großen und unbegreiflichen Veränderungen ihrer Umwelt zu arrangieren. Dadurch, dass Julia die Geschichte in der Retroperspektive erzählt, weiß der Leser, dass die Welt nicht untergeht. Sie macht nur einen sehr großen Wandel durch. Das hilft beim Lesen sehr, weil man dadurch nicht die Hoffnung verlieren kann, wenn es schon wieder aussichtslos scheint. „Ein Jahr voller Wunder“ hat mich sehr berührt und ich kann es nur weiterempfehlen!