gwyn
Der Anfang: «Es gibt Dörfer, die scheinen das Unheil anzuziehen. Man riecht es schon, wenn man die Luft einatmet, die trüb ist, abgestanden und verbraucht wie alles, was dem Niedergang entgegengeht.» Dieser Roman, ein historischer, literarischer Thriller, ist angesiedelt in Italien, im nördlichen, bergigen Bereich des Veneto um 1900. Tabakanbau hat in Italien eine lange Tradition und stand immer unter staatlicher Kontrolle. Bis heute ist Italien in Europa der größte Tabaklieferant. Der «Nostrano del Brenta» hat höchste Qualität, da er bis heute per Hand getrocknet wird. Um genau diesen Tabak geht es. Augusto de Boer ist einer dieser Tabakbauern, die unter staatlicher Knute Tabak anbauen. Die Samen werden zugeteilt, müssen vorsichtig vorgezogen werden, sorgsam ausgepflanzt und aufgezogen, jeden Tag umsorgt werden. Immer wieder kommen staatlichen Kontrolleure, überwachen, zählen die Pflanzen. Nach der Ernte erhält der Bauer einen staatlich festgelegten Preis pro Kilo. Handel findet nicht statt. Mit dem Erlös kommen die Bauern kaum über die Runden, obwohl sie in kärglichen Verhältnissen leben. Fällt die Ernte wetterbedingt schlecht aus, geht der Hunger durch das Dorf Nevada im Brentatal. Die Mutigen Männer zweigen ein wenig Tabak ab, verstecken ihn, schmuggeln den Tabak über die Grenze nach Österreich. Wer erwischt wird, geht ins Gefängnis. Die ganz Mutigen nehmen den gefährlichen Weg über den Passo di Pavione, der nicht ganz so streng bewacht wird, verkaufen in Imer und Mezzano ihren «Nostrano del Brenta» an die Bergleute. Sie erhalten dafür Kupfer- und Silberbarren. Einer von ihnen ist Augusto de Boer. «Zum Abendessen hatte es Polenta, Ricotta und Karden gegeben. Agnese hatte am Kopfende des Tisches gesessen, auf dem Platz ihres Ehemanns, der seit über einem Jahr verschollen war …» Seine älteste Tochter, Jole, nimmt er 1894 einmal mit auf den Weg, da er in diesem Jahr gut Tabak abzweigen konnte, Hilfe beim Tragen benötigt. Im Jahr darauf kehrt er nicht zurück von seiner Reise. Im Folgejahr geht es der Familie schlecht, sie wissen nicht, wie sie den Winter überstehen sollen. Sie hatten wieder Tabakblätter abgezweigt – und Jole wagt nun allein den gefährlichen Weg. «De Menech verließ sich auf sieben Männer seines Vertrauens … Dabei handelte es sich um Bergleute, die während der Arbeit Metalle heimlich hinunterschluckten und zu Hause zurückgewannen, indem sie sorgfältig ihren Kot untersuchten.» Atmosphärisch und unverblümt beschreibt Matteo Righetto das Leben der Bauern und Bergarbeiter, ausgepresst vom Staat. Der Tabakschmuggel in den Dolomiten gehörte zu den gefährlichen Zuverdiensten der Bauern, ein Wagnis, das mit Gefängnis oder Tod enden konnte. Seine Erzählung ist kurz und prägnant aufgebaut, und sie wird ab der Mitte sehr spannend. Ein Coming of Age – Jole begegnet unterwegs einigen Menschen – wem kann man vertrauen? Sagen wir es nach Brecht: «Der Mensch an sich ist schlecht.» Erzählerische Kraft zieht den Leser hinein in die Geschichte, die langsam startet, dann Vollgas bis zum Anschlag tritt. Einige Absätze lohnen sich, sie aufzusaugen, mehrfach zu lesen. Dann wieder gibt es kitschige Stellen, die verziehen sind. Bei den Protagonisten mag man auf den ersten Blick meinen, sie würden ins Klischee rutschen. Aber man muss sich in diese Zeit versetzen – eine Frau war Objekt, nichts wert. Insofern passen die Charaktere schon. Ein Roman im Genremix: literarischer Thriller, Abenteuerroman, historischer Roman, ein Coming of Age. Mir hat das Buch gut gefallen. «Hier hatte er die Arbeiter beobachten können, die dazu verurteilt waren, zwanzig Stunden am Tag in den Tiefen der Welt, im Bauch und in den Eingeweiden der Erde zu schuften. Vor dem Leben verborgen. Gezwungen zu einer Existenz ohne Luft und ohne Licht, ohne Himmel und ohne Sterne. Mehr Dämon als Mensch.» Matteo Righetto wurde 1972 geboren und lebt in Padua. Er ist Dozent für Literatur. Sein Roman «Das Fell des Bären» (Originaltitel: «La pelle dell’orso») war ein internationaler Bestseller und wurde von Marco Segato verfilmt.