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gwyn

Posted on 23.2.2020

Der Anfang: «Abfahrt: Sie schlafen mit offenem Mund und dem Gesicht zur Sonne. Junge und Mädchen, mit Schweißperlen auf der Stirn und trockenem weißen Speichel auf den roten Wangen.» Eine Patchworkfamilie aus New York bricht mit dem Auto zu einer Reise nach Arizona auf – ein Roadmovie. Das Ziel ist Apacheria, das Land, in dem einst die Apachen zu Hause waren. Gleichzeitig sind Tausende von Kindern aus Südamerika auf dem Weg in die USA. Zwei Erzählstränge fließen zusammen. Mit dem Auto tagelang unterwegs, nicht immer ganz einfach, sich die Zeit zu vertreiben, Hörbücher hören, singen, spielen, dem Vater zuhören, wenn er etwas über die Apachen erzählt, Radio hören. Im Sender berichten sie über die verlorenen Kinder aus Latainamerika, deren Eltern schon länger in den USA leben, Kinder, die sich auf den Weg zu den Eltern machen. Aus dem Fenster schauen, Landschaften ziehen vorüber, öde Landstriche mit halb verlassenen Städten, das Ringen, die nächste Tankstelle noch vor dem roten Strich zu erreichen, denn viele Tanken sind stillgelegt – Wüsten, Berge, verlassenen Regionen, menschenleere Gegenden. Diners, Motels für die Ruhepausen, für die Nacht. Im Radio immer wieder die Berichte über die Kinder: Sie tragen Rucksäcke mit Wasser, Spielzeug und sauberer Unterwäsche bestückt, sie laufen, klettern auf Züge und in offene Frachtcontainer – nicht jedes Kind schafft es bis zur Grenze … «Obwohl wir im Auto nahe beisammensitzen, sind wir vier unverbundene Punkte – jeder auf seinem Platz, in eigene Gedanken versunken, beschäftigt von unterschiedlichen Stimmungen und unausgesprochenen Ängsten.» Die Erzählerin ist die Frau in diesem Auto – dabei ihr Mann, mit dem sie kaum kommuniziert, ihre Tochter, sie ist fünf, sein Sohn, er ist zehn Jahre alt - die sie als das Mädchen und der Junge betitelt. Eine ziemlich distanzierte Erzählhaltung, eher einem Bericht entsprechend. So auch die Kapitel. Ganz am Anfang berichtet sie von der Rechtssache gegen Manuelas Töchter, die immer noch nicht bei ihrer Mutter sind. Ein Non-Profit Anwalt hatte es immerhin geschafft, sie aus der Jugendstrafanstalt in Texas in eine humanere Unterkunft zu verlegen, in ein ehemaliges Walmart-Zentrum. Ein Fall, wie zehntausende andere gibt: «Mehr als achtzigtausend Kinder ohne Papiere aus Mexiko und dem nördlichen Dreieck Zentralamerikas», flohen vor Gewalt, sexuellem Missbrauch an die südlichen Grenzen der Vereinigen Staaten, um Schutz zu finden, wollen mit ihren Eltern oder Familienangehörigen, die in den USA leben, zusammengeführt werden. Die Kinder werden verhaftet. – Die Erzählerin ist immer in Gedanken zu den Kindern, will das alles archivieren – die Ehe scheint gescheitert, nur der Job verbindet sie noch mit ihrem Mann. Immer wieder Vernehmungsprotokolle, Geschichten der Flüchtlingskinder. Sieben Schachteln mit Archiven im Kofferraum, die dieser Geschichte ihr Konstrukt geben. Ihr Mann ist auf den Spuren der letzten freien Chiricahua-Apachen, der untergegangenen Apachen-Kultur, darum die Reise. Archivieren. Kulturgut. Etwas geht verloren. Archive in Kästen im Auto. Die Familie fährt auf die Grenze zu, die Kinder wandern auf die Grenze zu. Die Familienmitglieder wandern voneinander ab. «Fast jeden Tag fahren wir, fahren noch ein Stück und hören Geräusche, die sich über diesem gewaltigen Territorium ausbreiten, und manchmal nehmen wir sie auf, Geräusche, die unseren Weg kreuzen. … Inzwischen sind wir seit über drei Wochen unterwegs, aber manchmal fühlt es sich an, als hätten wir unsere Wohnung in New York erst vor drei Tagen verlassen; und dann wieder scheint es, wie im Augenblick, als wären wir vor einer Ewigkeit aufgebrochen und bereits völlig andere Menschen als vor dieser Reise.» Im letzten Drittel kippt die Geschichte und die Perspektive. Der Junge erzählt nun. Eingewoben gibt es eine Menge Zitate und Elegien aus Büchern, viele reisen als Hörbucher mit, wie z.B. T.S. Eliot, Rainer Maria Rilke, Dante, Virginia Woolf, Ezra Pound. Ein vielschichtiger Roman, der sich aus vielen Bruchstücken aneinanderfügst. Es ist auch ein Zeitdokument über die Kinder von Einwanderern in den USA, ein Zeitdokument über die Hölle in ihren Herkunftsländern, ein Aufzeigen über eine menschenverachtende Politik gegenüber Flüchtlingen, letztendlich überall auf der Welt. Interessant ist die Gestaltung dieses Romans, der sich aus verschiedenen Perspektiven und Fragmenten zusammensetzt. Valeria Luiselli, geb. 1983 in Mexiko City, schreibt für Magazine und Zeitungen wie Letras Libres und die New York Times. Sie hat bisher zwei Romane veröffentlicht, Die Schwerelosen und Die Geschichte meiner Zähne, sowie die Essays Falsche Papiere. Ihre Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. Archiv der verlorenen Kinder ist der erste Roman, den sie in Englisch geschrieben hat. Sie lebt in New York.

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