Bris Buchstoff
Jeder hat sein Geheimnis Königin-Maud-Land – Hand aufs Herz, wer weiß wo das liegt? Bis vor der Buchmessse 2019 und vor der Lektüre des Erzählbandes der norwegischen Schriftstellerin Line Madsen Sinestad mit dem Titel Königin-Maud-Land ist geheim sicherlich weniger Leser*innen als heute. Lesen bildet auf mehreren Ebenen, das ist keine Frage. Was genau hinter dem Titel steckt und was die Verbindung der einzelnen Erzählungen mit diesem geheimen Ort zu tun hat, war für mich ein großer Anreiz für die Lektüre. Das Cover des Buches gab Rätsel auf, die ich nicht wirklich lösen konnte. Aber nicht nur deshalb wirkten die fünf Erzählungen des schmalen Bandes lange nach. Königin-Maud-Land ist ein Teil des Kontinentes Antarktika, dessen Küstenregionen von zwei norwegischen Flugpionieren 1929/1930 entdeckt wurden. Zwischen den Jahren 1927 und 1937 finanzierte ein norwegischer Walfangmagnat neun Expeditionen in die Region, aufgrund derer Norwegen 1939 das Land beanspruchte, was aber nach wie vor international nicht anerkannt wird. Die Frage, warum man ein Stück unwirtliches Land am Südpol für sich beansprucht, stellt sich natürlich aus heutiger Sicht nicht mehr so wirklich, denn sicherlich geht es hier um Bodenschätze, die verborgen unter dem Eis – wie lange noch? – schlummern. Und so wie diese Bodenschätze noch unentdeckt existieren, so muss man auch die Erzählungen des literarischen Debüts von Line Madsen Sinestad freilegen. Fünf Erzählungen sind es, die alle über etwas verbunden sind, das scheinbar nur den Leser*innen offenbart wird. Immer geht es auch um Beziehungen und Liebe, meist um Verlust, Tod oder Trennung. Auch Geheimnisse gibt es in jedem der äußerst intensiven Texte, die von ihrer klaren, fast nüchternen, aber nicht kalten Sprache geprägt sind. "Ein neuer Tag bricht an in Königin-Maud-Land. In Königin-Maud-Land isst man Brote mit Norvegia-Käse zum Frühstück. In Königin-Maud-Land putzt man zwei Minuten lang die Zähne, man zählt die Sekunden. Der Junge will Geldscheine basteln. Eine Flagge, sagt er, wir müssen doch eine Flagge haben. […] Was brauchen wir noch?, fragt er. Wir brauchen eine Verfassung, erwidert die Mutter. Ja, eine Verfassung!, jubelt der Junge. Artikel eins der Verfassung, sagt die Mutter, lautet: Königin-Maud-Land ist geheim." Königin-Maud-Land, so nennt eine Mutter das, was sie für sich und ihren kleinen Sohn schafft: eine Parallelwelt, in der sie ihn vor allem schützt. So sieht zumindest die Mutter das, was für die Leserin mit fortschreitender Entwicklung der ca. 50 Seiten langen und dem Buch Titel gebenden Geschichte, eine immer ausweglosere Situation für die beiden hervorbringt, zumal Königin-Maud-Land laut der Mutter geheim ist und bleiben muss. Die Beweggründe der Mutter bleiben im Dunkeln, es gibt viele Dinge, die man mutmaßen könnte, doch klar wird nichts. Dass dies der Geschichte keinen Abbruch tut, verdankt sie dem ganz eigenen und intensiven sprachlichen Können der Autorin. „Wie wirst du nur ohne mich zurechtkommen?“, fragte Hennie und wickelte eine Strähne von meinem Haar um ihren Finger. „Wie wirst du ohne mich zurechtkommen?“, entgegnete ich und pikste ihr einen Fingernagel ins Bein.“ Wärhrend also die dritte Erzählung des Bandes eine geheime Insel der Einsamkeit, die einen Schutzraum bilden soll, zum Thema hat, so wird die erste Geschichte vom Geheimnis der Liebe und versteckten Tabletten bestimmt, obwohl sie auf den allerersten Blick eher fluffig und sorglos daherkommt. Doch im Grunde genommen geht es auch hier um Verlust und Trennung, denn die zwei Schwestern, die ihren letzten gemeinsamen Sommer auf einer Schäreninsel verbringen, werden, wenn die ältere der beiden zu Besuch zurückkommen wird, nicht mehr die sein, die sie jetzt sind und lange waren. Durch das Weggehen der einen werden beide verändert werden. In der sommerlich leichten Erzählung schwingen dabei sowohl Aufbruch- als auch Verluststimmung mit. Und dabei sollte die ältere der Schwestern doch der jüngeren noch alles über die Liebe beibringen … "In dem grünen Sessel unter dem Dachfenster halten wir abwechselnd Wache, während mein Vater im Bett liegt und stirbt. Er stirbt wie die Sonne, dehnt sich aus, als ob er nicht wüsste, dass er schrumpfen wird, fallen, ohne zu landen." Roter Riese heißt die zweite Geschichte des Bandes. Und hier versucht eine Tochter die Trauer, die sie empfindet, wenn sie ihren todkranken Vater besucht, ebenso zu verbergen, wie die Angst vor dem Tod und vor der Möglichkeit, Alkoholikerin zu sein. Kurze Phasen der Selbstreflexion – vor allem mit selbst beruhigenden Ansätzen – werden zwischen die Besuche im Zimmer des Vaters eingeschoben und geben damit einen tieferen Blick auf eine Tochter, die nicht so ganz mit der Situation klar kommt und froh darüber ist, dass da noch die Freundin des Vaters mit wacht. Und gleichzeitig ist die Tochter verwundert, wie sehr ihr Vater sie noch einnimmt und sie mit der Planung seiner eigenen Beerdigung beschäftigt. Ein trotz seiner vielleicht etwas sperrig erscheinenden Art sehr inniger Text. "So ist es immer: Papa und ich im Auto unterwegs durch Schweden. […] Ich stelle einen Sender ein, der Chart-Hits spielt, und draußen ist es schon ganz dunkel. Das Licht sind wir beide." Agnes, die Erzählerin der vierten Geschichte mit dem etwas merkwrüdigen Titel Die Tschernobyltiere wird durch den Tod der eigenen Mutter in eine Rastlosigkeit geworfen, die zwar von ihrem Vater ausgeht, der sie aber aufgrund ihres Alters nicht ausweichen kann. Mehrfach wechselt der Vater die Partnerin und damit auch den Wohnort. Immer muss Agnes mit dem jeweiligen Hund, der für beide so etwas wie eine Zeiteinheit darstellt, weiterziehen. Als die Geschichte einsteigt, ist es mal wieder soweit, dass Agnes mit ihrem Vater weiterzieht. Es ist Silvester und eigentlich soll gefeiert werden, doch Agnes Vater fährt noch einmal los, um richtiges Feuerwerk zu besorgen. Der Plan, den seine Freundin für den Abend hat ist somit ad acta gelegt und als er zurückkommt, gibt es lautstarken Streit, der Agnes und den Sohn der Freundin des Vaters unabhängig voneinander, aber schlussendlich gemeinsam aus dem Haus treibt. Es ist das erste Mal, dass die beiden eine echte Gelegenheit haben, sich zu unterhalten und feststellen, dass ihr Bild vom jeweils anderen ziemlich falsch war. Eine kurze Annäherung, die durch den Streit der Erwachsenen nicht von Dauer ist. Agnes Stimme in diesem kurzen Text ist prägnant und strahlt, wenn sie von sich, den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens oder ihren Freunden spricht. Line Madsen Sinestad hat die Figur der Agnes so geschaffen, wie sie sich in der Erzählung selbst sieht: "Ich bin eine, die das Licht reflektiert. Die Welt soll an mir abprallen und meine Kanten spüren. Die Welt muss sich um mich herumquetschen, sich nach meinen Konturen formen." und verleiht damit dieser Erzählung einen besonderen Glanz, der sie aus den anderen hervorhebt. "Während sie die Treppe hinaufgeht, macht sie eine Liste der Dinge, die man sagen kann: Das tut mir wahnsinnig leid. Das war mies. Dann streicht sie alles von der Liste, und als Johan schließlich vor ihr in der Tür steht, kann sie nur wiederholen: „Kannst du mich reinlassen?“" Am Abend vor Weihnachten macht Johan Schluss mit Vera – sein bester Freund, der wie ein Bruder für ihn war, ist tot. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. Und Vera muss gehen. Warum sich Johan so entscheidet, bleibt ein Geheimnis. Denn er spricht nicht mehr viel mit Vera. Als Vera von ihm weggeht, steigt sie in ein Taxi und bittet den Fahrer, einfach nur herumzufahren. Mit dem Taxi durch die Nacht. Durch eine Nacht, die Vera dazu veranlassen wird, sich nicht endgültig abweisen zu lassen. Ob Johan sie jedoch reinlassen wird, bleibt offen. Im Grunde genommen sind alle fünf Geschichten kleine Momentaufnahmen aus dem Leben unterschiedlicher Menschen. Die Leser*innen springen hinein, verfolgen das Geschehen eine Weile und werden von der Autorin mit einem offenen Ende entlassen. Aber nicht ohne den Eindruck, jede Erzählung für sich wirken lassen zu müssen. Diese kurzen Erzählungen klingen lange nach und werden deshalb am besten in homöopathischen Dosen und mit Abstand zueinander genossen, damit die Intensität, die jeder einzelnen zu eigen ist, ihre volle Wirkung entfalten kann, die sicherlich auch der wunderbaren Übersetzungsarbeit von Ilona Zuber zu verdanken ist.