Profilbild von DasIgno

DasIgno

Posted on 17.2.2020

Die Welt im Jahr 2088 hat nur noch wenig mit der zu tun, die wir kennen. Der Klimawandel hat ihre Geografie erheblich verändert, aus Staaten wurden Föderationen und die Menschheit wurde durch ein Virus erheblich dezimiert. Das Antlitz der Welt ist durch das Holonet bestimmt, das menschliche Hirn ist mittlerweile digitalisier- und übertragbar. Die erste echte Erfahrung mit Künstlicher Intelligenz ging Mitte des 21. Jahrhunderts vermeintlich spektakulär in die Hose. Im London dieser Welt arbeitet Galahad Singh als Quästor – eine Art Privatermittler, der verschwundene Menschen findet. Sein neuester Auftrag ist Juliette Perotte, eine brillante Krypto-Programmiererin, die sich mit der Verschlüsselung digitaler Kopien des menschlichen Hirns, sog. Cogits, beschäftigt. Schnell tauchen Fragen auf und ein gefährlicher Verdacht keimt: Stecken überhaupt Menschen hinter Perottes Entführung? ›Hologrammatica‹ ist der erste Band in Tom Hillenbrands Reihe ›Aus der Welt der Hologrammatica‹. Der Techthriller erschien 2018 bei Kiepenheuer & Witsch und umfasst 560 Seiten. Tom Hillenbrand entwirft in ›Hologrammatica‹ erneut eine düstere Zukunftsvision, um große Fragen technologieethischer Natur zu stellen. Das Grundszenario ähnelt in vielen Punkten dem aus ›Drohnenland‹. Eine Welt, die durch den Klimawandel erheblich verändert wurde. Staaten zerfielen, multistaatliche Institutionen (hier Föderationen) ersetzten sie. Weltweit agierende Konzerne, sog. Supernationals, haben die Welt erheblich beeinflusst. Drohnen spielen bei ›Hologrammatica‹ zwar keine Rolle, hier liegt der Fokus auf umfassender Holografie. Dafür überschneiden sich die beiden Bücher in puncto Künstliche Intelligenz. In diese Welt wirft Hillenbrand den Quästor Galahad Singh, aus dessen Perspektive der größte Teil von ›Hologrammatica‹ erzählt wird. Das Suchen von verschwundenen Personen hat aus unterschiedlichen Gründen in der neuen Welt Konjunktur – am naheliegendsten die Möglichkeit, sein Cogit in einen anderen Körper zu laden, die äußere Erscheinung also komplett zu wechseln. Dazu kommt die weltweite Migration wegen des Klimawandels. Überwachungstechnik ist bei Weitem nicht mehr so ausgeprägt, wie sie es zu Anfang des 21. Jahrhunderts noch war – hier hat die Menschheit aus der Erfahrung gelernt. Galahad wird also beauftragt, Juliette Perotte zu finden. Um diese Geschichte herum baut Hillenbrand einen technologiekritischen Thriller. Zahlreiche Fragen werden auf die eine oder andere Weise gestellt. Zentral bleiben die um Künstliche Intelligenzen. Wie weit würden wir die Kontrolle an eine solche abgeben, wenn es um die Lösung der großen Probleme, die wir offensichtlich nicht selber gelöst bekommen, geht? In ›Hologrammatica‹ hatte die Menschheit die Kontrolle bereits abgegeben, um die Klimakrise zu lösen. Unbeabsichtigt zwar, aber das wirft die zweite Frage auf: Sind wir überhaupt in der Lage, eine uns haushoch überlegene Künstliche Intelligenz so weit zu verstehen, dass wir sie im Zaum halten können? Die kaum überraschende Antwort ist Nein. Ist es dann überhaupt vertretbar, eine Künstliche Intelligenz zu aktivieren? Eine Antwort auf diese Frage ist schon schwieriger, denn auch wenn uns die Lösung, die eine KI zu einem Problem entwickelt, nicht gefällt, ist sie objektiv vielleicht doch die richtige oder einzige. Müssen wir uns dann zu unserem Glück, das im Wesentlichen im Fortbestand der Menschheit besteht, zwingen lassen, die Kontrolle also ganz bewusst mit allen möglichen Konsequenzen abgeben? Hillenbrand lässt viele Fragen offen, das ist nicht anders zu erwarten. ›Hologrammatica‹ soll Denkanstöße bieten, das schafft das Buch zweifellos. Abseits der ernsten Hintergründe ist es aber auch ganz einfach ein toll konzipierter Thriller. Die Welt, die Hillenbrand designed hat, ist komplex und (mindestens) fünfschichtig. Die Geschichte nimmt immer wieder unerwartete Wendungen. Gegen Ende hatte ich kurz die Befürchtung, sie würde mir eine Wendung zu viel nehmen, aber das korrigiert er. Im Gegensatz zu ›Drohnenland‹ kam ich auch deutlich besser in die Geschichte. Zwar wirft Hillenbrand auch in ›Hologrammatica‹ wieder mit einer Fülle von technischen Wortschöpfungen um sich, diesmal gibt es aber ein angemessen umfassendes Glossar. Das hilft ungemein und ist genau das, was ›Drohnenland‹ fehlte. Die Handlung ist sehr eingängig und erlebbar, was im Wesentlichen an der überwiegenden Ego-Perspektive liegt. Ein kleiner Teil wird durch einen personalen Erzähler erzählt, auch das sehr gelungen. Ein Wort zur Wiedergabe des gesellschaftlichen Klimas möchte ich noch verlieren, die gelingt Hillenbrand in meinen Augen nämlich wirklich gut. Die Weltbevölkerung hat sich durch die klimawandelbedingten Umwälzungen und Migrationsbewegungen stark vermischt, ist hinsichtlich äußerer Unterschiede homogener geworden. Darauf geht Hillenbrand immer wieder ganz beiläufig zwischen den Zeilen ein. In Verbindung mit der Ego-Perspektive seines Haupthandlungsstrangs vermittelt er dadurch genau das Maß an völliger Normalisierung, das das Thema äußerlicher Unterschiede der Menschen eigentlich auch ohne die Vermischung haben sollte. Insofern bekommt ›Hologrammatica‹ auch einen feinen antirassistischen Aspekt. ›Hologrammatica‹ lohnt sich, das auf jeden Fall. Es hat sowohl dystopische als auch utopische Elemente, interessante Figuren und Themen, über die wir schnellstmöglich nachdenken sollten. Die Mischung ist sehr gut gelungen und schlussendlich ist auch die Story an sich eine spannende. Ich bin sehr gespannt auf ›Qube‹, den zweiten Teil, der zwar letzte Woche erschien, schändlicherweise aber noch nicht bei mir.

zurück nach oben