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stricki

Posted on 16.2.2020

Hauptsache es passiert was Was passiert mit einer Jugend, die in der sächsischen Provinz groß wird? Welche Wünsche und Träume haben sie - während um sie herum alles verfällt, Geschäfte und Unternehmen schließen, Bessersituierte in den Westen ziehen. Basierend auf einer Gesellschaft, die durch die Erfahrung der DDR-Zeit stumm und misstrauisch geworden ist. Das Buch beginnt mit der Jahrtausendwende, 11 Jahre nach der Wiedervereinigung. Im Mittelpunkt steht die Familie Zschornack: Vater, Mutter, 2 Söhne, Großvater und Großmutter. Noch ist alles hoffnungsvoll, die junge Familie baut ein Eigenheim, die Brüder stromern durch die ländliche, sächsische Idylle. Nicht allen geht es so gut wie den Zschornacks, da ist Uwe, ehemaliger Arbeitskollege des Vaters, der Anschluss sucht, nachdem seine Frau ihn verlassen hat und er wegen seines Alkoholproblems entlassen wurde. "Leere Läden auf jeder Seite des Ganges."(S.63), Arbeitslose, junge Männer mit Bierflaschen, lungern rauchend vor den gespenstischen Einkaufszentren in Hoyerswerda rum. Schnell fahren die Großeltern am Sonnenblumenhaus vorbei, Anspannung in den Gesichtern. Eine Antwort auf die Frage, was dort passiert ist, erhalten die Brüder nie. Schweigen zieht sich durch das Buch, die Menschen reden nicht mit einander. Den Kindern wird nichts erklärt, oder sie werden mit vagen Andeutungen hilflos sitzen gelassen: "Du bist halt nirgends mehr sicher,"(S.77) so der lapidare Kommentar einer Mutter, als Vater Zschornack den Terror von 9/11 anreißt. Rassistische Sprüche der Eltern, Polen werden als Polacken beschimpft, die sorbische Minderheit ist grundsätzlich selber schuld, wenn sie Opfer von körperlicher Gewalt wird. Selbst ein Hakenkreuz direkt vor der Schule wird verdeckt und entfernt, bei den Jungs bleibt ein diffuses Gefühl von Scham und Angst bei den Erwachsenen zurück. Für die Jugendlichen gibt es nichts in Neschwitz. Das einzig Interessante sind die jungen Erwachsenen, die Hakenkreuz-Schmierer, die mit ihren aufgemotzten Autos vor der Schule rumhängen, um wenigstens von irgendjemandem bewundert zu werden. Es kommt wie es kommen muss, Philipp findet zuerst Anschluss, später folgt ihm der jüngere Bruder Tobias nach. Die Clique junger Männer schlägt die Zeit mit Biertrinken tot, Anführer Menzel macht die Regeln, ein zorniger, verbitterter, hochgradig nervöser Unsympath, unberechenbar, gefährlich. Und weil es keine Alternative gibt, ziehen die Brüder mit. Die klassischen Mitläufer, sie haben nie etwas anderes kennen gelernt, das wird hier überdeutlich. In der Gruppe gelten sie was, wenn sie Fleischabfälle werfen, auf Demos gehen, Schlägereien anzetteln oder Eigentum zerstören. Lukas Rietzschel hat ein großartiges Werk geschaffen! Er schreibt in einer sehr klaren, ruhigen und detailreichen Sprache. Er urteilt nie, er beschreibt. Er wahrt einen großen Abstand zu seinen Figuren - dadurch gelingt es ihm, diese stellvertretend für eine ganze Gruppe stehen zu lassen. Und mit Gruppe meine ich Menschen, die sich als die Verlierer einer Gesellschaft fühlen, die sich abgehängt fühlen, die unreflektiert übernehmen, was andere ihnen einbläuen. Die niemals gelernt haben, dass sie Möglichkeiten haben. Auch wenn sie im direkten Umfeld erleben, dass Veränderungen möglich sind, ziehen sie diese, verbunden mit einer eigenen Anstrengung, nicht in Betracht. Sie wollen nicht umziehen, sie wollen bleiben wo sie sind und dort soll gefälligst alles gut sein. Oder wieder werden. Und weil es gerade nicht optimal ist, sind andere daran schuld. Da die Politik und die Wirtschaft nicht direkt angreifbar sind, braucht es andere Schuldige. Da sind noch Schwächere natürlich ein gefundenes Fressen. Es fällt leicht, diese mit wenig Bildung und vielen Vorurteilen behafteten jungen Menschen mit erhobenem Zeigefinger entgegen zu treten. Genau das kritisiert Rietzschel auch in seinem Buch, so lässt er die Gutmenschen im Zug die jungen Rassisten arrogant belächeln. Was deren Wut nur schürt. Eine einfache oder schnelle Lösung für das Problem Rassismus gibt es nicht, die Ursachen gehen tiefer und lassen sich nicht durch ein Gespräch oder ein Essen mit Fremden lösen. Die Medien und die Politik sind gefordert, Aufklärung zu fördern, und rassistischen Strukturen klar etwas entgegen zu setzen. Jeder von uns ist gefordert. Falls der Autor mit seinem Buch auf- und erklären will, was vielerorts passiert, so ist ihm das meiner Meinung nach hervorragend gelungen. Unbedingt lesen!

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