Bris Buchstoff
It's not the waking, it's the rising* Schule ist nicht immer ein Zuckerschlecken, das wissen wohl die meisten von uns. Die einen haben gute oder zumindest keine allzu schlechten Erfahrungen gemacht und haben ihre Schulzeit recht unbeschadet hinter sich gebracht, die anderen haben Schule regelrecht gehasst. Zumindest was das Lernen, Prüfungen oder Zeugnisse angeht. Alle haben wir aber gemein, dass wir eine gewisse Anzahl von Jahren auf Schulbänken verbrachten und uns damit Bildung zuteil wurde, denn in Deutschland gibt es eine Schulpflicht. In den USA gibt es diese Schulpflicht nicht, wohl aber eine sogenannten Bildungspflicht, der auch zuhause nachgekommen werden kann. Wie so etwas durchaus kompetent umgesetzt werden kann, zeigt sich eindrucksvoll in einem großartigen Film aus dem Jahr 2016: Captain Fantastic – wobei es in diesem Film nicht nur um Hausunterricht geht. Aber auch in diesem Film prallen zwei Welten aufeinander. Denn die gezeigte Familie lebt völlig fernab jeglicher Zivilisation im Wald. Versorgt sich unabhängig. Die Kinder wachsen ohne den Einfluss moderner Medien auf und erhalten trotzdem eine allumfassende Ausbildung in vielen Bereichen. Ihr Vater möchte sie vor allem zu selbst denkenden, kritischen Menschen erziehen. Tara Westover ist am Fuße des Buck Peak in Idaho aufgewachsen. Fast ein bisschen wie die Familie aus Captain Fantastic lebt auch ihre Familie fernab der Stadt, jedoch bei weitem nicht tief in den Wäldern. Die Familie ist geprägt vom mormonischen Glauben. Eine Religion, die den Mann in den Mittelpunkt und die Frau in die Küche stellt. Westovers Vater ist Fundamentalist. Noch dazu hat er das, was man eine bipolare Störung nennt. Doch das wird Westover erst klar, als sie schon fast von der Familie verstoßen ist. Denn Tara Westover hat sich für ein anderes Leben entschieden. Dafür, ihre eigene Geschichte zu schreiben, ihre Lebensgeschichte so zu sehen, wie sie war und ist und nichts mehr zu beschönigen. Ein harter Prozess, den sie über Jahre hinweg durchstehen muss, der ihr anfangs nicht klar ist und den sie zögerlich anerkennt. Denn diesen Prozess zu durchlaufen ist mit Scham und Angst verbunden. Scham vor dem, wer sie ist oder zu sein glaubt. Angst um das eigene Leben, Angst davor verstossen zu werden. Doch je weiter der Weg der Bildung sie fort führt von ihrem geliebten Buck Peak, der sie mit seiner Natur geformt und auch gestärkt hat, um so mehr lernt sie, dass sie nicht anders kann, als ihre Geschichte umzuschreiben. Die wahre Geschichte der Tara Westover muss erzählt werden, um beständig sein zu können. Denn was sie ständig auf den Prüfstand stellt, sind ihre eigenen Erinnerungen, ihr Empfinden. Westovers Memoir steigt früh in ihrem Leben am Rande des Buck Peak ein. Die Familie besteht aus fundamentalen Mormonen. Der Vater betreibt einen, zeitweise mehrere Schrottplätze und baut Lagerhallen und ähnliches. Sein Team besteht vor allem aus den eigenen Kindern. Sieben sind es insgesamt, Tara ist die Jüngste und hilft zunächst ihrer Mutter bei der Herstellung von Essenzen und ätherischen Ölen aus Heilkräutern. Hier ist Taras Mutter eine Kundige. Der Vater will dieses Wissen ausbauen, will, dass seine Frau auch als Hebamme tätig wird. Ihr selbst ist das zu viel, doch schließlich willigt sie ein und begleitet zuerst die Hebamme der Gegend und als diese wegzieht, übernimmt sie – zunächst zögerlich und später zumindest mit ungutem Gefühl diese Tätigkeit. Sie hat keine Lizenz und die Gefahr, dass sie im Gefängnis landet, wenn etwas passiert oder sie einfach so erwischt wird, ist groß. Doch sie beugt sich dem Willen ihres Mannes, der diesen als göttlichen propagiert. Immer wieder findet der Vater Zeichen dieses göttlichen Auftrags – es gibt genügend Unfälle, die passieren und da Westovers Vater davon überzeugt ist, dass er in die Hände des FBI, quasi des Systems fällt, wenn er sich oder Familienmitglieder in einem Krankenhaus behandeln lässt, ist es die Mutter, die mit Tinkturen und Salben behandelt, die erstaunlicherweise wirken. Allerdings bleiben in den meisten Fällen natürlich Schädigungen zurück, auch weil die Tragweite der Verletzungen gar nicht recht überblickt werden kann. Tara ist zehn, als sie das erste Mal mit auf dem Schrottplatz hilft. Eine mehr als harte und auch überaus gefährliche Arbeit, nicht nur für eine Zehnjährige. Durch einen ihrer großen Brüder kommt sie das erste Mal mit Chorgesang in den Kontakt und ist hingerissen, dass es so etwas Schönes geben kann. Während sie unter dem Schreibtisch des Bruders den Gesängen lauscht, bereitet er sich auf die Collegeaufnahmeprüfung vor … Was genau uns zu Handlungen treibt, die uns aus dem bisher bekannten Umfeld drängen, weiter zu anderen Horizonten, ist manchmal auf den ersten Blick nicht klar. Was man nicht anders kennt, nimmt man häufig als gegeben hin. Die Vorstellungskraft, dass etwas, das man erleidet – Gewalt, Manipulation oder ähnliches – nicht richtig sein könnte, hat man häufig gerade als Kind nicht. Und schafft man es nicht, sich davon zu befreien, verharrt man – auch wenn man nach und nach ein Gefühl dafür entwickelt, dass etwas nicht stimmen kann – in einer Art Duldungsstarre. Tara Westover wagte den Schritt hinaus in die Welt. Sie traute sich, sich selbst zu vertrauen. Auch wenn es Jahre dauerte. Tara Westover beschreibt ihren Weg eindrucksvoll und unprätentiös. Dabei ist sie vollkommen ehrlich mit sich, ihrem eigenen Verhalten und dem ihres Umfelds. Das ist an manchem Stellen nichts für zarte Gemüter, zeigt aber eindrücklich, wie schwer es ist, sich aus dem ureigensten Umfeld zu befreien, von dem man, wächst man darin auf, glaubt, dass es nur das Beste für einen möchte. Und im Grunde ist es ja auch so, dass Westovers Vater – gesteuert durch seine bipolare Störung und seinen religiösen Fundamentalismus – daran glaubt, alles richtig und zum besten der Familie zu tun. Der Blick von außen zeigt anderes und zwar sehr schnell. Und so merkt auch Westover, dass das, was sie als Kind erfahren hat, nicht richtig sein kann. Die Brutalität ihres Bruders ihr gegenüber ist unglaublich – auch für sie. Manipulativ wie er mit ihr umgeht, gelingt es ihm sogar, ihr ein Bild von sich selbst einzupflanzen, dass völlig falsch ist. Sobald sie sich von der fundamentalistischen Linie nur ein My entfernt, ist sie sich sicher, von Grund auf verdorben zu sein. Schlußendlich traut sie ihren Gefühlen und damit sich selbst nicht mehr über den Weg. Wie und dass sie es dennoch schafft, sich zu befreien, das verdankt sie ihrem festen Stand, wo ihn andere nicht haben, auch wenn sie selbst denkt, dass dieser feste Stand sie eben als nicht würdig auszeichnet, überhaupt die Möglichkeiten zu erhalten, die ihr nun offenstehen. Und obwohl man vieles über dieses berührende, aber in keinster Weise „gefühlige“ Buch noch zu sagen wäre, fürchte ich, es nicht annähernd adäquat darstellen zu können. Tara Westovers Geschichte ist so vielschichtig, wie ihr Buch es ist. Weil es zwar für mich nicht ganz greifbar bleibt, zumindest mit Worten, und eben gerade wegen der Komplexität ihrer scharfen Analyse dessen, was Bildung bewirkt, was ein weiter Horizont vermag,, ist es ein absolutes Lesemuss. Die Quintessenz jedoch ist ganz klar und deutlich zu erkennen: Es ist nicht das Erwachen, sondern das Aufstehen, das zählt. *Zitat aus „Nina cried Power“ von Hozier