Bris Buchstoff
Vorab – dies ist keine Rezension oder Besprechung im üblichen Sinn, denn eigentlich ist alles, was man zu diesem Buch sagen muss: Dieses Buch ist dermaßen wichtig, dass es Pflichtlektüre für alle Menschen sein muss, die Macht und Entscheidungskompetenz inne haben und das globale Handeln bezüglich einer der größten Herausforderungen, der sich die Menschheit stellen muss, mitbestimmen – der voranschreitenden und nicht mehr rückgängig zu machenden Erwärmung der Erdatmosphäre. „Die Natur überall um uns herum ist im Wandel begriffen, und wir müssen unsere gesamte Lebensweise umstellen. Es klagt sich leicht darüber, dass das Problem ja ach so groß sei und jeder Einzelne von uns so klein, aber etwas gibt es, das jeder von uns tun kann, jeder für sich und im eigenen Tempo, etwas, das einfacher ist, als den Müll zu trennen oder den Thermostat herunterzudrehen, und doch ungleich wertvoller: Wir können die Gefahren für unsere Zukunft als das bezeichnen, was sie sind.“ Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie es für mich als Teenager oder junge Erwachsene war, mich ökologischen Themen zu nähern. Die Anti-Atomkraft-Bewegung formierte sich, genauso wie eine neue Partei – Die Grünen – und mit ihnen gewann die Umweltbewegung an Gehör und interessierte uns junge Menschen für Themen, die vor allem zukunftsorientiertes Handeln verlangten. Ich sammelte zuhause die Alufolie von allerlei Verpackungen und tätigte regelmäßige Ausflüge in die Nürnberger Südstadt, um meinen kläglichen Ertrag im Laden des Bund Naturschutzes abzugeben und mich dort mit Recyclingpapier einzudecken. Mein Vater war gelernter Maschinenschlosser, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Dampfturbinen in Kraftwerken im europäischen Ausland aufgebaut, repariert und gewartet und stand jeglicher technischen Neuerung immer offen gegenüber. Die Grünen waren ihm suspekt, der Anti-Atomkraft-Aufkleber entlockte ihm nur ein trockenes „ja, ja, bei denen kommt der Strom auch aus der Steckdose“, aber bereits kurz nach dem Bau des Eigenheims und der Ölkrise von 1974 hatte er den Tank für die Ölheizung wieder entfernen lassen, den somit gewonnenen Kellerraum als Werkstatt ausgebaut und auf Fernwärme umgestellt. Anders als die meisten der Nachbarn, die in den nächsten Jahren in unserer Gegend bauen sollten. Was die Atomkraft anging war für ihn 1986 das Jahr der Umkehr – Tschernobyl war für ihn das Zeichen, dass wir diese Technologie nie ganz im Griff haben würden. Offensichtlich hatte er erkannt, dass äußere Umstände ein inneres Umdenken und folglich auch entsprechendes Handeln manchmal rasch notwendig machen. Seine Sichtweise und sein Handeln haben meine Einstellung zu vielen Dingen, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren, maßgeblich geprägt. Mir ist klar, dass mein Handeln als Individuum, im Anbetracht der Tatsache, dass ein Menschenleben doch nur ein Wimpernschlag in Bezug auf die Erdentwicklung ist keinen riesigen Ausschlag macht. Und dennoch, oder gerade deshalb fühle ich mich zu einem ökologischen und nachhaltigen Handeln verpflichtet. Wenn ich aus dem Fenster sehe, blicke ich auf drei Bäume, die im Hof unserer Mietwohnanlage stehen. Eine Linde, ein Haselnussbaum und ein Baum, den ich nicht mehr bestimmen kann – er starb vor drei Jahren, im ersten der Dürrejahre, in dessen dritten in Folge wir uns derzeit befinden. Es regnet – zumindest in unserem Landstrich eindeutig zu wenig. Im April des Jahres 2020, in dem wir uns derzeit befinden, regnete es lediglich 5 Prozent der durchschnittlichen Niederschlagsmenge, die sonst in diesem Monat in der Bundesrepublik verzeichnet wird. Die Starkwetterereignisse häufen sich und werden lokaler. Wir stecken mitten in einer Klimakatastrophe, die vor ca. 30 Jahren von Wissenschaftlerin ziemlich genau so vorhergesagt worden ist. Leider hat ihnen damals niemand wirklich zugehört bzw. entsprechend politisch gehandelt. Nathaniel Rich hat in seinem akribisch recherchiertem Buch „Losing Earth“ die Vorgänge nachgezeichnet, die dazu führten, dass wir heute nicht mehr viel Zeit haben, an den möglichen Stellschrauben zu drehen, die unseren Kindern und Enkeln eine einigermaßen stabile Lebensgrundlage auf diesem großartigen Planeten bescheren könnten. Nathaniel Rich beginnt seine Dokumentation mit einem Epilog, der klar macht, dass es wichtig ist, zu verstehen, was vor dreißig Jahren schief gelaufen ist, als die Fakten die aufzeigten, wohin die ökologische und Klimapolitische Reise gehen würde, wenn nicht gehandelt wird. Und leider – nach einem kurzen Aufbäumen im Jahr 2019 mit einer großen Basis, die global ein Umdenken und gezieltes Handeln forderte – scheint es nun wieder so, dass die erste Sorge in Zeiten einer Virusbedingten Krisensituation der Wirtschaft gilt und ein ökologischer Wandel erneut und im Glauben daran, noch Zeit zu haben, verschoben wird. Erst die Wirtschaft, um die Umwelt können wir uns später kümmern – das hört sich nicht viel anders an als in der Zeitspanne zwischen 1979 und 1989, die Rich unter die Lupe genommen hat. Damals allerdings war das Hauptargument, die Wissenschaft könne keine konkreten Aussagen über die Konsequenzen zum Beispiel unseres Verbrauchs fossiler Brennstoffe tätigen. Auch heute gibt es wieder genügend Leugner, die solche oder ähnliches Argumente ins Feld führen. Allerdings zeigt Rich im Verlauf seiner drei Kapitel ganz genau, weshalb die wissenschaftlichen Fakten zwar zunächst bei den politischen Entscheidungsträgern ankamen und auch gewisse Veränderungen bewirkten, letztendlich aber der schnöde Mammon beziehungsweise die Wirtschaft und deren Lobbyisten die Oberhand zurück gewannen. Ganz klar macht „Losing Earth“ dennoch, dass die Vorhersagen der Wissenschaftler fast punktgenau heute zu sehen und zu spüren sind. Nathaniel Rich hat gewissenhaft recherchiert, Informationen gut verständlich dargestellt, die Chronologie nachvollzogen, Verbindungen aufgezeigt und eine Struktur der Darstellung für all die Ereignisse gefunden, die in den Jahren 1979 bis 1989 dazu führten, dass unser Planet sich immer mehr erhitzt, die Pole schmelzen, der Meeresspiegel steigt, ebenso wie die Häufigkeit von Schwerstwetterereignisse – erst gestern habe ich von Hagelkörnern gelesen, die das Dach eines Hauses in Texas durchschlagen haben und auf einem Foto die Größe eines Handballs hatten -, die Liste wäre noch um einiges erweiterbar. Das Buch liest sich spannend, wie eine Tragödie, deren Ausgang man als Leser*in genau erkennt, die handelnden Figuren jedoch scheinen das nicht zu tun. Und genauso fühlt sich die aktuelle, reale Situation für mich an. In Zeiten von Corona, in denen wir selbst erfahren haben, dass ein zumindest teilweise erfolgter Shutdown die Luftqualität immens verbessert, den Lärmpegel in den Großstädten auf ein äußerst angenehmes Niveau senkt, der CO² Ausstoß rapide nach unten geht und das nicht nur unserer Lebensumgebung, sondern auch uns Menschen gut tut, sollten wir doch verdammt noch mal diese Situation als Chance begreifen und nicht wieder einfach zu einem business as usual Verhalten zurückkehren. Das Mindeste wäre tatsächlich eine Anerkennung der Tatsachen als solche – doch genüg ist das auf keinen Fall. Vielen Dank an den Rowohlt Verlag für dieses Buch – eigentlich müsste sich jemand finden, der wie Dirk Rossmann im Fall von Jonathan Safran Foers „Wir sind das Klima“ auch „Losing Earth“ unter die Leute – und vor allem auch in den Bundestag bringt.