Caillean
Der Mantel des Schweigens… … wird so oft um Dinge gehüllt, die zwiespältige oder negative Meinungen hervorrufen. So ist es auch bei den Behandlungsmethoden und dem Klinikalltag in der psychiatrischen Anstalt Ambergate in England in den 1950er Jahren. Die Schwesternschülerin Ellen Crosby hat es anfangs nicht leicht an ihrem neuen Arbeitsplatz. Die Patientinnen scheinen unberechenbar, die ihr überstellten Schwestern und Ärzte gefühlskalt. Dass man den Alltag in einer solchen Klinik oft nur meistern kann, wenn man abstumpft, hat Ellen noch nicht gelernt. Sie ist noch besessen von dem Eifer, ihren Patientinnen zu helfen, ihnen zur Seite zu stehen und einen Alltag zu biegen, der möglichst nah an „normal“ ist. Doch was ist überhaupt normal und wo beginnen Auffälligkeiten? Dass dies gar nicht so einfach zu erkennen ist, merkt Ellen, als Amy eingewiesen wird – eine junge Frau in ihrem Alter, die auf den ersten Blick gesund wirkt und ein ausgeprägtes Ego hat. Nur langsam kommt Ellen der Geschichte auf die Spur, die Amy nach Ambergate gebracht hat: sie soll versucht haben, sich und das Neugeborene ihrer Stiefmutter umzubringen. Für die Gründe scheint sich zunächst kaum jemand zu interessieren – Amy wird traktiert mit zum Teil grausamen Methoden zur „Heilung“. Dann erkennt auch der Arzt Dr. Lambourn, dass Amy eine ganz besondere Patientin ist und geht mit ihr Schritte, die den bisher anerkannten Heilmethoden widersprechen. Er setzt damit eine Kettenreaktion in Gang, die erst 50 Jahre später ihre Auflösung finden wird. Mich hat Amy als Charakter fasziniert, denn ich war mir bei ihr bis zum Schluss nicht wirklich sicher, wie ich sie einordnen soll – ist sie einfach nur eine traumatisierte junge Frau, deren Erlebnisse mit entsprechender Behandlung und ggf. Medikation gut aufzuarbeiten sind? Oder steckt mehr dahinter und sie ist tatsächlich psychisch krank? Die Grenzen verwischen und die Autorin beantwortet diese Frage im Buch – bewusst oder unbewusst – nicht. Was das angeht, machte es auf mich den Eindruck, als wolle sie an der einen Stelle mal den Eindruck erwecken, Amy sei tatsächlich sehr krank und nicht berechenbar, an anderer Stelle klingt es eher so, als sei sie „nur“ ein Opfer der Umstände. Hier wäre es für mich als Leser schöner gewesen, einen „roten Faden“ zu haben – aber vielleicht war das auch bewusst nicht gewollt. Insofern dann ein sehr cleverer Schachzug der Autorin, denn das zeigt, wie schwer es ist, psychische Krankheiten zu diagnostizieren und zu behandeln. Dennoch war es kein Buch, was mich runtergezogen hat – der Fokus liegt ganz klar auf dem Familiengeheimnis rund um Amy, das im Laufe der Geschichte aufgedeckt wird, und bei dem sowohl Schwester Ellen als auch die junge Historikerin Sarah im Jahr 2006 eine Rolle spielen. Insoweit ist es doch irgendwie ein klassischer historischer Familienroman. Nur das Thema ist eben doch irgendwie besonders. Einen Minuspunkt muss ich jedoch für den Titel vergeben. Er ist aus meiner Sicht vom Verlag nicht glücklich gewählt, da sich erst im letzten Drittel des Buches, wenn die Zusammen-hänge langsam offenbar werden, erschließt wieso das Buch „Die Tochter des Arztes“ heißt. Da hätte man vielleicht etwas wählen können wie „Das Haus der verlorenen Seelen“ oder so ähnlich – das hätte keinen direkten Bezug zur Entwicklung der Handlung gehabt und doch neugierig gemacht. Wer geheimnisvolle Familienromane alà Katherine Webb oder Kate Morton mit einem Hauch Düsternis liebt, der trifft mit diesem Buch eine gute Wahl und wird sicher beim Lesen seine Freude haben.