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stricki

Posted on 14.2.2020

(Keine) Romantik und Wahnsinn Ein irres Buch, das mich sofort in seinen Bann gezogen hat. Die Medusa, ein elegantes Segelboot, sticht 1816 in See, Ziel soll Afrika sein, Sehnsuchtsort und Hoffnung vieler Passagiere. Leider ist der Kapitän ein ahnungsloser Aufschneider, die Crew eine Horde brutaler, verrohter Seemänner und anderes Gesindel, ein paar romantische Träumer, Wissenschaftler und Staatsdiener ergänzen das bunte Potpourri an Bord. Die wilde Fahrt kann losgehen! Mein besonderes Highlight: der Autor vergleicht die Charaktere und Geschehnisse der damaligen Zeit (1816) mit heutigen Ereignissen und Personen! Die anwesenden Offiziere sehen aus wie Lino Ventura und Alain Delon - diese Vorgehensweise verblüffte mich, hatte ich so noch nicht gelesen. Gefiel mir außerordentlich gut. Ein wahres Lesevergnügen. Die Geschichte zog mich sofort in seinen Bann. Franzobel schreibt so lebendig, so bildgewaltig, ich hatte den zarten, gebildeten Viktor vor mir, den sanften Muskelprotz Seemann Hosea mit Papagei auf der Schulter, den schmierigen Hasenscharten-Koch, die Dame mit Feuermal und all die anderen. Das Leben an Bord ist kein Zuckerschlecken, das Leben im Grunde kaum einen Pfifferling wert, das merkt Viktor schnell. Aber er sitzt fest, kein Entkommen, mitten auf dem Meer. Das Boot: komplett überbevölkert. Welch Gestank! Die zwielichten Gestalten, auch ohne Schiffbruch schon der blanke Horror. Ich kann verstehen, dass manch zartbesaiteter Leser hier die Segel strich, die menschlichen Abgründe kennen hier keine Grenzen. Dabei feuert Franzobel ein wahres Feuerwerk an psychologischer Finesse ab, Gottesgläubige, Obrigkeitshörige, Traumatisierte, Schwachköpfe, Intriganten, Eitle, Lügner, Sadisten, Mitläufer, es gibt hier nichts was es nicht gibt. Die absolute Hölle folgt nach dem Auflaufen auf die Sandbank. Zu wenige Rettungsboote, die alte Geschichte. Die Edelleute und Staatsdiener sichern sich die Boote, der Pöbel, tja. Darf sich mit rund 150 Menschen auf einem grob zusammengezimmerten Floss zusammen drängen, wird seinem Schicksal überlassen. Ein paar Überlebende wird es geben, kaum bis gar nicht mehr bei Verstand. Der Arzt schreibt über das, was passiert ist, er erhält aber nicht die erwünschte Aufmerksamkeit ... Lesehighlight! So klug und lebendig, ich dreh durch!

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