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Maike Bücheler

Posted on 14.2.2020

Hannah Baker hat sich umgebracht. Clay Jensen, der heimlich für sie schwärmte, versteht es bis heute nicht. Doch dann erhält er ein Päckchen mit 7 Kassetten und als er sie in den alten Rekorder seines Vaters einlegt, ertönt Hannahs Stimme. Auf den Kassetten will Hannah erklären, warum sie sich umgebracht hat – und zwar direkt denen, die daran Schuld tragen. 13 Personen und Ereignisse haben sie dazu getrieben und Clay soll einer davon sein. Ich glaube, ich war in der 9. Klasse, als ich „Tote Mädchen lügen nicht“ von Jay Asher zum ersten Mal gelesen habe, also war ich wohl so ungefähr 14 oder 15 Jahre alt und lag damit direkt in der Zielgruppe des Jugendbuches. Obwohl das nun doch schon eine ganze Weile her ist, weiß ich noch ziemlich genau, wie ich das Buch verschlungen habe und mit welchem mulmigen Gefühl ich die Geschichte von Hannahs Selbstmord damals beendet habe. Seitdem habe ich das Buch nicht angerührt, doch die gerade erschiene Serienverfilmung schien mir ein passender Anlass für ein Re-Read zu sein. Auch dieses Mal konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Schuld daran ist wohl die ungewöhnliche Dynamik der Geschichte, die durch die doppelte Erzählstruktur entsteht: auf der einen Seite ist da Clay, der sich die Kassetten anhört und auf der anderen Seite ist da Hannahs Stimme, kursiv gedruckt, die ihre Geschichte so eindringlich und ehrlich erzählt, dass ich manchmal glaubte sie selbst zu hören. Und sie erzählte zum Teil nicht nur Hannahs Wahrheit, sondern eine Wahrheit viel schmerzhafter und wahrer, eine, die wohl jeder in seiner Jugend irgendwann erlebt hat. Dadurch fühlt man sich sofort mit Hannah verbunden. Man hat das Gefühl sie zu kennen – denn irgendwie ist man sie. Auf der anderen Seite war da bei mir aber auch der Gedanke: ja, ich habe das auch durchgemacht. Ich habe mich deswegen aber nicht umgebracht. Und noch im selben Moment schäme ich mich für diesen Gedanken, denn wer bin ich, zu beurteilen, wie schlimm sich etwas für jemand anderen anfühlt? Dazu habe ich kein Recht, nicht einmal, wenn es sich um eine fiktive Person handelt. Und doch blieb das Gefühl in der ersten Hälfte des Buches bestehen. Es sind zunächst Lappalien, die Hannah auflistet, das sagt sie auch selbst. Doch es sind diese Lappalien, die alles andere ins Rollen brachten – und das hat sie schließlich zum Selbstmord getrieben. Das ist der bittere Beigeschmack, den das Buch hinterlässt. Das Bewusstsein, dass es kleine Fehler waren, Fehler, die jeder von uns jeden Tag unbeabsichtigt machen könnte, die Hannah am Ende das Leben kosteten. Und das ist etwas, was uns nicht mehr loslassen sollte, wenn wir die Geschichte einmal gelesen haben. Damit wir bewusster durchs Leben gehen und uns unseren Handlungen bewusster sind. „Tote Mädchen lügen nicht“ ist ein Jugendbuch. Es hat nicht einmal 300 Seiten. Es erzählt die Geschichte von Hannah Baker – das es sich also nicht um eine umfassende und mit wissenschaftlichen Fakten hinterlegte Arbeit handelt, ist klar. Das kann und sollte man von dem Buch auch nicht erwarten. Außerdem greift es auch nicht nur das Thema Selbstmord auf, sondern auch die Themen Mobbing, Alkohol, Vergewaltigung und vermutlich noch ein paar mehr, die mir jetzt auf Anhieb nicht einfallen. Das ist manchmal etwas viel für 288 Seiten. Und so sehr die Ereignisse in Hannahs Leben zum Ende hin doch an Intensität zunehmen, so unverständlich bleiben ihre Motive am Ende zu einem gewissen Grad doch. Bringt sie sich aus diesen Gründen wirklich um? Ja, vielleicht. Wer bin ich, das zu beurteilen? Woher will ich wissen, was ich in Hannahs Situation getan hätte? Man sagt sich, man hätte selbst nicht den Selbstmord gewählt, doch wirklich wissen kann man es nicht. Vielleicht ist das auch gut so. Hannahs Geschichte hat mich definitiv berührt – beim ersten Lesen vor fünf Jahren genau wie dieses Mal. Doch was wirklich betroffen macht, ist das Wissen, dass sich Geschichten wie die von Hannah Baker jederzeit tatsächlich ereignen können – und ereignet haben. Ich erinnere mich daran, dass nach dem ersten Erscheinen des Buches sich im angrenzenden Landkreis tatsächlich ein Mädchen das Leben genommen hat und vorher, genau wie Hannah, ihre Gründe auf Kassetten aufgenommen hat. Wahrscheinlich war das sogar nicht einmal ein Einzelfall. Und immer ging es wahrscheinlich auf Ereignisse zurück, die einem zunächst so klein und unbedeutend erscheinen, wie bei Hannah. Ereignisse, die ein jeder beeinflussen kann. Wahrscheinlich gab es meistens sogar auch Warnzeichen wie bei Hannah und alle haben nur weggesehen. „Tote Mädchen lügen nicht“ rüttelt seine Leser wach. Was wir tun und wie wir miteinander umgehen spielt immer eine Rolle, egal wie klein sie zunächst scheinen mag. Und wir selbst sind dafür verantwortlich, dass unser Name nicht irgendwann auf einer Liste von 13 Gründen einer anderen Person landet. Wegsehen sollte keine Option sein, das macht Jay Asher klar und deutlich. Fazit: Jay Asher greift in seinem Jugendbuch "Tote Mädchen lügen nicht" viele schwierige Themen altersgerecht auf und baut sie in eine Geschichte ein, die ihre Leser in den Bann zieht und nicht mehr loslässt, selbst wenn einige Charaktere eindimensional bleiben und nur wenige meine Sympathie ernten konnten. Das spielt hier jedoch nur eine untergeordnete Rolle, ist doch die Message des Buches so viel wichtiger und auch noch spannend dargestellt.

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