morningside
1939 leben Queeny und Briney mit ihren 5 Kindern als sogenannte Flusszigeuner auf einem Hausboot auf dem Mississipi in der Nähe von Memphis. Queeny ist hochschwanger und es gibt Komplikationen bei der Entbindung, weil es sich dieses Mal um Zwillinge handelt. Es bleibt keine andere Möglichkeit, als sie ins Krankenhaus zu bringen. Diesen Umstand nutzen gewissenlose Menschen aus, die kurzzeitig auf dem Boot alleine gelassenen Kinder zu verschleppen. Die Töchter Rill, Camellia, Fern, Lark und ihr Bruder Gabion werden in ein Weisenhaus der Tennessee Childrens's Home Society gebracht unter dem Vorwand, dass ihre Eltern sie dort bald abholen würden, sobald es der Mutter besser gehe - die Babies sollen bei der Geburt verstorben sein. Mehr als 70 Jahre später trifft die junge Avery Stafford zufällig in einem Altenheim auf die inzwischen über 90jährige Rill, die inzwischen May genannt wird. Sie erkennt das Armband wieder, dass Avery von ihrer Großmutter bekommen hat und hat zudem ein Foto ihrer Oma im Zimmer stehen. Alles in ihr gerät in Aufruhr und sie beginnt, der Geschichte ihrer Großmama, die inzwischen an Demenz erkrankt ist, nachzuforschen. Bald stößt sie auf verstörende Informationen, die ihr bisheriges, sorgenfreies Leben infrage stellen. So viel zum Inhalt, denn ich möchte nicht zu viel verraten. Das Buch bietet zwar eine fiktive Geschichte, was die Protagonisten angeht, beruht jedoch leider auf Tatsachen was die Tennessee Childrens's Home Society anbetrifft, die bis 1950 ihr Unwesen in mehreren Niederlassungen treiben konnte. Mir war dieses unrühmliche Kapitel amerikanischer Geschichte bisher unbekannt und schon aus diesem Grund hat sich die Lektüre gelohnt. Aber nicht nur deshalb. Das Buch ist überwiegend wechselnd aus der Perspektive von Avery und Rill/May geschrieben, wobei Rills Kapitel in den Monaten nach ihrer Verschleppung spielen. Man erlebt den grausamen Alltag der gefangenen Kinder mit, die z. T. daran zu zerbrechen drohen. In dieser Hinsicht werden sich die zu jener Zeit existierenden hiesigen Kinderheime nicht extrem von den dortigen unterscheiden. Heute wäre so etwas kaum mehr vorstellbar. Dieser Perspektivwechsel gestaltet das Buch lebhafter, auch wenn ich zugeben muss, dass ich hauptsächlich von Rills Berichten gefesselt war und immer sehr gespannt, wie es ihnen weiter erging. Ein kleiner Wermutstropfen waren die mich irgendwann nervenden Wiederholungen in Rills Gedankengängen. Vielleicht sollten sie die Denkweise einer 12jährigen deutlich machen aber mich haben die ständigen Hinweise alá "Flusskinder können so etwas" auf die Dauer gestört. Trotzdem war die Handlung in diesen Teilen so spannend, dass ich immer bedauerte, wenn ich das Buch zur Seite legen musste, weil der Mensch ja schließlich auch mal essen muss. Averys Anteil war deutlich farbloser und zudem noch mit einer überflüssigerweise eingestreuten Liebesgeschichte dekoriert. Darauf hätte ich gut verzichten können, denn ehrlich gesagt interessierte mich Averys Leben kaum bis gar nicht. Mich interessierten an ihr lediglich ihre Nachforschungen und alles übrige störte mich mehr als dass es mich begeistert hätte. Zumal man schon sehr früh ahnt, worauf es hinaus läuft. Zum Glück hielt sich die Romantik jedoch erfreulich zurück, sodass ich damit leben konnte. Erfreulicherweise gibt es auch kein wirkliches Happy End - wie sollte es das auch nach über 70 Jahren. Aber es wird aus den Bruchstücken der Schicksale das Bestmögliche gemacht. Der Schreibstil war, davon mal abgesehen, sehr gut zu lesen. Ich bin förmlich durch das Buch geflogen, was aber doch eher am Thema als am Schreibstil lag. Wer sicher gerne mit solchen nicht einfachen Themen beschäftigt, dem kann ich das Buch wärmstens ans Herz legen.