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Yvonne Franke

Posted on 27.3.2023

Die namenlose Ich-Erzählerin erwacht in Panik. Ihr Stiefvater Siegfried ist gestorben – hat sie im Traum genau gesehen. Und als sie erwacht, kann sie ihn nicht erreichen. Ihn zu verlieren, würde sie in ihren Grundfesten erschüttern. Zu sehr definiert sie sich, ihren Status, ihre Erwartungen an menschliche Beziehungen über das Aufwachsen bei ihm. Wer wäre sie noch ohne Siegfrieds Urteil? Ihre Liebesbeziehung, die so innig und vielversprechend begann, ist gescheitert, ihre Schrifstellerinnenkarriere ist durch eine Schreibblockade lahmgelegt, die Schulden türmen sich. All das widerspricht dem Bild, das sie von sich hat, der Zukunft, die sie fest erwartet hatte. Leistungskraft und Wohlstand gehören zu ihrem Selbstbild, nicht zuletzt, weil Siegfried ihr beides vorlebte. Es reicht nicht. Sie reicht nicht. Mit nackten Füßen steigt sie in ein Taxi und setzt sich in die Notaufnahme einer Psychiatrie. Vielleicht darf sie dort ein wenig zur Ruhe kommen. Vielleicht sagt man ihr dort, was eigentlich mit ihr los ist. Wir folgen der Erzählerin in ihre Kindheit, einer, die man oberflächlich betrachtet als "wohl behütet" bezeichnen würde. Eine Mutter, die in den Augen der Tochter nie einen Fehler macht, immer alles im Griff hat. Das Zwanghafte daran schält sich erst nach und nach heraus. Ein Stiefvater, der zu viel arbeitet, der im Umgang mit dem Kind verlässlich ist aber emotional unerreichbar – ein teuer uniformierter Leistungsträger, der Frau und Tochter in eine allumfassende Abhängigkeit hinein manipuliert. Die eigene Herkunft kann ein zu eng geschnürtes Korsett sein. Vor allem, wenn man sie nicht, oder erst spät im Leben, hinterfragt. "Siegfried" erzählt von häuslicher Gewalt in all ihren Facetten, vor allem in ihrer Unsichtbarkeit. Und vom Aufwachsen in einer Scheinwelt, in der so viel verdrängt werden muss, dass man sich nur noch in die Oberflächlichkeit zurückziehen kann. Antonia Baum beginnt ihre Erzählung in dem Moment, in dem diese Oberfläche Risse bekommt. Auch in der Nacherzählung ihrer Kindheit behält die Erzählerin ein falsches Selbstbild bei, das man aus der lesenden Distanz heraus nach und nach entlarvt. Es ist, als würde man ihre Geschichte mitschreiben. Sieht man genau hin, glaubt man nicht alles, schimmert plötzlich ein echter Mensch durch. Antonia Baum hat eine Frauenfigur geschrieben, die Empathie fordert und sich erst dann zu erkennen gibt. Und dann wird man sie so schnell nicht mehr los.

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