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seeker7

Posted on 24.3.2023

Der amerikanische Philosoph und Neurowissenschaftler Sam HARRIS hat einige Gemeinsamkeiten mit seinem deutschen Kollegen Thomas Metzinger (s. „Bewussseinskultur„): Wie dieser erforscht auch HARRIS das Bewusstsein von (mindestens) zwei Seiten: von der Hirnforschung aus und durch Beobachtung und Analyse der Eigenerfahrungen bei meditativen Praktiken. Als Erweiterung der Introspektion haben beide auch mit psychedelischen Drogen experimentiert. HARRIS ist allerdings noch eindeutiger der Szene der meditativen Bewusstseinserweiterung zuzuordnen; er hat in jüngeren Jahren viel Zeit mit bekannten asiatischen „Gurus“ verbracht und bietet aktuell u.a. auch eine (englischsprachige) Meditations-App an. Der Autor zieht aber eine deutliche Grenze zwischen intensiven spirituellen Erfahrungen auf der einen, und religiös bzw. esoterisch geprägten, mit irrationalen Dogmen verbundenen Lehren. Die Ausführungen von HARRIS kreisen immer wieder um einige Grundüberzeugungen des Autors: – Regelmäßige Praxis in Meditation und Achtsamkeit können zu einem gesunden, erfüllten und ethisch fundierten Leben beitragen. Dabei spielt die Steuerung der Aufmerksamkeit auf das aktuelle Erleben und die gelassene Akzeptanz auch von unangenehmen Realitäten eine Rolle. – Es möglich und erstrebenswert, den eigenen Geist steuern zu lernen und sich Bewusstseinszuständen anzunähern, die mit geistiger Klarheit und Präsenz im augenblicklichen Erleben verbunden sind. – Eine besondere Rolle spielt dabei die Fähigkeit, aus dem (nur teilweise bewussten) Kreislauf innerer Gedanken auszusteigen, sich von ihnen zu distanzieren (genauso wie von momentanen Gefühlen und Bewertungen). – Sich einem „reinen“ Bewusstseinszustand zu nähern, bedeutet auch, sich von den üblichen Vorstellungen eines „Ich“ oder eines „Selbst“ zu lösen; diese Begriffe stellen aus Sicht von HARRIS nur (kognitive) Konzepte dar, die nicht mit der Realität unseres „wahren“ Bewusstseins übereinstimmen. Der Kern dieses Buches ist das Werben für eine säkulare (also von irrationalen Annahmen freien) Spiritualität. Ein direkterer Zugang zu der Basis unseres Bewusstseins und die Zunahme der Kontrolle über die eigenen geistigen Vorgänge schaffen – so HARRIS – nach und nach eine Befreiung von psychischen Belastungen und Beeinträchtigungen; gleichzeitig ermöglicht die Konzentration auf aktuelle Sinneseindrücke ein bewussteres Erleben und Genießen unsers gegenwärtigen Seins – was auch einen engeren Bezug zur Natur und zu den Mitmenschen beinhalte. HARRIS macht deutlich, dass man bei der Meditation keineswegs irgendwelchen Erleuchtungserfahrungen hinterherjagen muss; auch die kleinen Schritte bei der „Schulung des Geistes“ zur Achtsamkeit können das (Er-)Leben entscheidend verändern. Der Autor zeigt sich aber auch in seiner Rolle als Neurowissenschaftler und gibt faszinierende Einblicke in Befunde, die unser Alltagskonzept vom Selbst und vom Bewusstsein vollkommen in Frage stellen (z.B. durch Forschungen an sog. „split-brain-Patienten“). Er stellt faszinierende Grundsatzüberlegungen an – über die Rolle von Bewusstsein für das ganze Universum und seine Sinnhaftigkeit. HARRIS verhehlt auch nicht, dass bestimme psychoaktive Substanzen (MDMA, Psilocybin, LSD) sehr rasch und sicher zu „wertvollen“ Erfahrungen führen können, die auch vielen langjährigen Meditations-Profis versagt bleiben. Doch dieser Weg – das macht der Autor klar – ist voller Risiken. Vieles in diesem Buch ist anregend und nachvollziehbar; HARRIS ist sicherlich in der Lage, viele Leser/innen zu einem Einstieg in oder einer Intensivierung von meditativen Übungen zu motivieren. Dies gilt vor allem für die Sinnsuchenden, die sich irrationalen und willkürlichen Glaubensvorschriften (von Sekten, Gurus und Religionen) nicht unterwerfen wollen. Bei HARRIS muss man seinen logischen Verstand nicht an der Garderobe abgeben, um sich auf die Suche nach einen tieferen Einblicken in Sphären zu begeben, die jenseits des Alltagsbewusstseins liegen. Trotzdem erscheint nicht alles plausibel und widerspruchsfrei. So begründet HARRIS seine Grundthese, dass sich im „wahren“ Bewusstsein auch das „Ich“ auflöst (und auflösen soll), nicht explizit. Was ist so einschränkend an dem „normalen“ Gefühl, eine personelle Einheit zu bilden – selbst wenn dies höchstwahrscheinlich nur eine Illusion ist. Hält es uns ab von dem restlosen Verschmelzen mit dem Kosmos? Muss man soweit kommen (wollen)? Ist das „reine Bewusstsein“ wirklich so ein paradiesischer Zustand, dass man Jahre seines Lebens (oder Drogenexperimente) darauf verwenden sollte, ihn zu erreichen? Reicht nicht ein bisschen mehr Achtsamkeit und Gelassenheit? Was auch irritiert: Wenn es eigentlich so einfach ist, durch regelmäßige Meditation seinen Geist zu schulen – warum hat sich HARRIS als junger Mensch jahrelang in abgelegensten Ecken der Welt von verschiedensten Meistern „ausbilden“ lassen? Welche Weisheiten erfährt man von diesen Menschen, die man nicht in ein paar Wochen vermitteln könnte? Braucht man Gurus, um dann doch Atem-Meditation zu machen (was man in weinigen Stunden erlernen kann)? Das mag für einige banal und ketzerisch klingen. Aber für mich waren und sind das offene Fragen. Das rätselhafte menschliche Bewusstsein steht im Zentrum von philosophischen, neurowissenschaftlichen, psychologischen und sinnsuchenden Aktivitäten. HARRIS hat mit diesem Buch einen engagierten und anregenden Betrag geliefert.

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