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Buchdoktor

Posted on 16.2.2023

Über Sylvie Schenks 1916 geborene Mutter Renée hieß es, dass sie nur mit kleinen Kindern sprach und sonst sehr zurückhaltend war. Wer das von ihrer Tochter nachempfundene Schicksal bis zu ihrer Eheschließung mit 20 verfolgt, wundert sich darüber kaum. Renée wurde als uneheliche Tochter der Arbeiterin Cécile geboren, die die Geburt nicht überlebt und sich vermutlich (wie auch andere Arbeiterinnen) prostituierte, weil ihr Lohn nicht zum Leben reichte. Renées Tochter erzählt, wie die frühe Kindheit des aufs Land „weggegebenen“ Kindes verlaufen sein könnte und phantasiert sich selbst in die Geschichte, um ihren Figuren dort über die Schulter zu blicken. Dass Anfang des 20. Jahrhunderts das zarte Baby einer über 40-Jährigen Gebärenden überhaupt überlebte, muss allein ein Wunder gewesen sein. Ein weiteres Wunder geschah, als im zuständigen Amt jemand erkannte, dass Renée für die - staatlich finanzierte - Pflegestelle eine reine Einkommensquelle war, sie zurückholte und einem kinderlosen Paar als Adoptivkind vermittelte. In der wohlhabenden Apotheker-Familie hielt das kleine Mädchen zunächst den Kopf gehorsam gesenkt, sprach kaum, lernte langsam und zeigte keine besonderen Talente. Bei der 1936 von den Eltern arrangierten Ehe mit einem ebenfalls sehr ruhigen Mann kommt es zum Skandal, als die Schwiegereltern erfahren, dass die Braut ein Adoptivkind ist, dessen Herkunft im Dunkeln bleibt. Ihre Ehe samt „ehelichen Pflichten“ und die älteren vier Kinder erträgt Renée stoisch. 1938 wird die erste Tochter geboren. Erst mit der jüngsten, 20 Jahre nach dem ersten Kind geborenen Tochter sieht man sie zum ersten Mal lachen, zu einer Zeit, als sie vermutlich nicht mehr schwanger werden konnte und damit ihre Pflichten erfüllt hatte. Das Bild von Renées Leben als Ehefrau und Mutter entsteht aus Erinnerungen und Erzählungen ihrer Kinder, im Kontrast zur frühen Kindheit, über die niemand erzählen konnte. Wenn ein Kind kein Selbstbild entwickeln kann, keine Anekdoten über sich erzählt bekommt, warum sollte es dann mit anderen sprechen, habe ich mich hier gefragt. Im zweiten Teil ihrer Spurensuche folgt Sylvie Schenk ihren Eltern und den älteren Kindern in ihr „Chalet“ in den Südalpen, wo der Vater eine Zahnarztpraxis übernehmen konnte. Er schätzte den Ort angesichts der deutschen Besetzung als sicher ein; ob ihm die Bedeutung der Region für die französische Résistance bewusst war, gibt er zumindest seiner Familie nicht zu erkennen. Sylvie Schenk, die schon als Jugendliche ihre Mutter über ihr Leben befragte, zeichnet ein psychologisch hochinteressantes Familienporträt, das auch in der folgenden Generation vom Vertuschen und Verleugnen ungeplanter Kinder geprägt ist. Für die 1916 geborene Tochter einer ledigen Arbeiterin empfinde ich Renées Schicksal nicht als ungewöhnlich, selten ist jedoch seine Vererbung so deutlich geworden wie hier. Wer sich für Frauenleben vor dem Zweiten Weltkrieg interessiert und für die Vererbung von Traumata, sollte hier zugreifen.

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