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anne_hahn

Posted on 5.12.2022

Begib dich zum Ozean – der verstörend schöne neue Roman Ivana Sajkos "Ich könnte für immer so reisen, ohne ein Ziel, ohne den Zug in Berlin zu verlassen, einfach immer weiterfahren, auf der Eisenbahnlinie, die zu den Sandstränden des Baltikums führt, nach Stralsund, und noch weiter, über die Brücke, zu den weißen Felsen Rügens, […]" Dieser Satz findet nach acht Seiten einen Punkt. Ivana Sajkos neuer Roman "Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod" erinnert den Lesenden zunächst an das Buch "Der ungarische Satz" des montenegrinischen Autors Andrej Nikolaidis. Auch dort erzählt einer, der im Zug durch Europa fährt, auch er trägt seine jugoslawischen Erinnerungen im Gepäck, sinniert, die Welt abgleichend, ohne jeden Punkt. Aber Ivana Sajko unterbricht. Als ahnte sie, dass wir ihr Erinnern nicht ertragen würden ohne Luftholen, ohne Punkt. Sie unterteilt den 150 Seiten dünnen Roman in Abschnitte, einige Seiten lange Passagen, in denen verschmilzt, was dem schreibenden Mann im Zug einfällt, hochkommt, was ihn bedrängt, was er mitteilt. Ein Freund schreibt ihm Nachrichten, er macht sich Notizen und denkt. Er ist auf der Flucht. Von einem Ort an der Küste Kroatiens, dort hat er eine Frau zurückgelassen, seine Liebe. Wie in ihrem preisgekrönten "Liebesroman" (Internationaler Literaturbuchpreis des Hauses der Kulturen der Welt 2018) zerbricht eine Beziehung an der Unsagbarkeit des Gewesenen. Jetzt ist der Streit überwunden, lähmt das Schweigen und der Geflohene ruft sich Bilder auf, die das vergangene Gemeinsame beschwören, das Kommende ahnend. "… wir haben uns geliebt, ohne darüber nachzudenken, dass die Tatsache der Liebe die Lebensdauer eines kleinen Pelztieres hat, zum Beispiel eines Hamsters in einem Käfig, und dass wir uns später um das steife Körperchen würden kümmern müssen, das aus unerklärlichen Gründen aufgehört hat auf Nahrung und streicheln zu reagieren…" Das Paar war schon einmal in Berlin, streifte durch den Regen im herbstlichen Tiergarten, besah die Reste des Anhalter Bahnhofs und dachte nicht über die die Spuren der Granatsplitter und Wunden des zerschossenen Riesen nach – aber jetzt, wo das kleine Pelztier der Liebe verkümmert ist, meint der Ich-Erzähler, es gesehen haben zu müssen, schon damals. Dass Europa abtauchen würde in die „eigene sogenannte Demokratiefähigkeit“, während – hier fügt Sajko ein „wir“ ein – „während wir irgendwo am Rande des Territoriums enden würden, das sich in eine Tampon-Zone gegen Migranten und Viren verwandeln wird und wo sich das Elend jener, die sich schon dort befinden, strategisch gegen jene richtet, die erst kommen werden, denn das Elend mag kein weiteres Elend sehen …“ Das Elend hasst es, sich zu vermehren - ebenso schmerzhaft wie diese generalisierten, einem kollektiven Wir gewidmeten Gedanken sind jene, die ein Ich meinen, die zurückschauen. Nach einem Komma sind wir unvermittelt in einer jugoslawischen Kindheit mit zwei Brüdern. Bei einer Mutter, die versucht, sich gegen die Gewalt des Mannes zu wehren, ihre Kinder zu retten. Schließlich aufbricht nach Deutschland, als Gastarbeiterin. Ihr jährliches Wiederkehren ist in kurze Sentenzen gepresst und brennt in dieser Dichte. Auch dies ein Liebe, deren Übermaß in die Flucht treibt. Das Aufbrechen wiederholt sich, die kleinen Tode. Trost versteckt sich in Details, in der Klugheit der Betrachtung, die mit der Wucht der Trauer die Waage hält. In ihrem zweiten auf Deutsch vorliegenden Familienroman (2020, Voland & Quist), auch dieser reich und kunstvoll von Alida Bremer übertragen, erweiterte Sajko die geografische Verortung bereits (vor allem in ihren Fußnoten) aus Zagreb und Kroatien heraus – jetzt driften wir durch Europa bis an den Ozean des Nordens. Die 1975 in Zagreb geborene Performerin, Theaterregisseurin und Autorin zaubert mit scheinbar leichter Hand ganze Bühnenbilder in unsere Köpfe. Wenn die große Sprachschöpferin mit einem Ich begonnen hat, gleitet mancher Satz ins Universelle – ihr Erzähler friert am Salzburger Bahnhof und denkt an einen Zug im kroatischen Tovarnik, der sich während des Bürgerkrieges in Richtung Österreich in Fahrt setzen wollte und so überfüllt war, dass eine zitternde Hand innen an die beschlagene Scheibe zu schreiben begann SOS AIR, SOS – denkt ein Komma weiter an den Film von Lars von Trier, der damit endet, dass ein Mann in einem von einer Brücke gestürzten Zug ertrinkt. Während sein lebloser Körper sich befreit und davon schwimmt, sagt die Stimme Max von Sydows …“folge dem Fluss, begib dich zum Ozean, in dem sich der Himmel widerspiegelt. Ich würde gerne aufwachen und mich vom Bild Europas befreien, aber das ist unmöglich.“

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