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Yvonne Franke

Posted on 27.11.2022

Jarvis Cocker, Sänger der Band Pulp, spät aufgegangener Popstern der 90er Jahre, stürzte einmal, noch als junges Lokalsternchen, aus über 6 Metern Höhe aus einem Fenster und landete ungebremst auf Asphalt. Das ganze war nicht wirklich ein Unfall, sondern Folge des Versuchs, eine Frau mit einem Partytrick zu beeindrucken. Klar, denkt man, Drogen, ne? Aber nein, nicht der kleinste Rausch. Einfach nur fortgeschrittenes Chaotentum. Zum Glück! Denn ohne das große Chaos des Jarvis Cocker wäre dieses wahnsinnige, komische, seltsam hilfreiche Lebenssammelsurium namens "Good Pop, Bad Pop" undenkbar.  Cockers Haus hat einen Dachboden, sehr niedrig, man kann nicht aufrecht darin stehen – man kann eigentlich nur die kleine gelbe Tür öffnen und aus dem Flur heraus immer mehr Zeug hinein schieben, von dem man glaubt, man bräuchte es irgendwann mal wieder. Und dann sitzt man da, jahrzehntelang, und ahnt: das kann nicht ewig so weitergehen. Die Unordnung auf dem Dachboden wird irgendwann zur Unordnung im Oberstübchen. Wobei Henne und Ei in dieser Angelegenheit schwer zu unterscheiden sind.  Der einzige Weg, um die Sache wieder in den Griff zu bekommen, ist für eine echte Künstlerseele natürlich, das Erfinden einer Dramaturgie des Ausmistens. All diese Dinge waren schließlich zu einem Zeitpunkt im Leben des Jarvis Cocker wichtig genug gewesen, dass er sie (unordentlich aber doch sicher) aufbewahren wollte. Ein Tagebuch aus Plastik, Vinyl, Seife, Papier, aus Mode, Punk, Pop und Politik.  Jedes einzelne Teil nimmt er in die Hand, fotografiert es und lässt sich vom jeweiligen Eindruck in Zeitlöcher fallen – landet dabei aber nicht auf Asphalt, sondern zum Beispiel auf der Tanzfläche eines kleinen Clubs im Sheffield der 80er Jahre, in einem Fernsehstudio mit Leonard Cohen, in einer Schulhofprügelei oder im schlechten Propaganda-Pop der Margaret Thatcher.  Und man kann gar nicht anders, als es zu lieben oder sich zumindest darin zu verlieren. Schon grafisch gleicht das Buch einer so wilden Schnitzeljagd, dass man nach den ersten zehn Seiten nicht mehr weiß, wo der Ausgang ist und einfach weiterwühlt und dabei mit dem Meister das Gedankenpuzzle sortiert: Kann das weg oder soll das bleiben? Für die grafische Entsprechung des inneren Chaos ist Julian House verantwortlich, der schon Plattencover für  Primal Scream, Oasis und The Prodigy entwarf. Immer wieder arbeitete er schon in der Vergangenheit in Form von Collagen, was sich in Good Cop, Bad Cop ebenfalls an vielen Stellen sehr natürlich anbietet. Seiten- und Schriftfarben variieren, Fotos, Faksimile, tauchen auf wie in in einem Sammelalbum für Glanzbilder. Es ist alles sehr aufregend, aber eben nicht so wie ein Rockkonzert, bei dem man voller Bewunderung ins Licht starrt und dabei selbst in der dunklen Masse verschwindet, sondern es macht Räume auf für die Erstaunlichkeit des eigenen Lebens, die sich aus den winzigsten Dingen entfalten kann. Eine Art sinnliche Bestandsaufnahme. Damit kann man sich sehr gut in den Jahreswechsel hineinwurschteln, finde ich.

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