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Buchdoktor

Posted on 15.11.2022

Hempel ist Student im 26. Semester, und nicht nur sein Nachname bringt andere Menschen zum Grinsen; den Vornamen wagt er schon gar nicht zu nennen. Seine Beziehung zu Elfie konfrontiert ihn mit deren Talent, nur bescheidene Träume zu haben, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in Erfüllung gehen werden. Als Organisationstalent hält Elfie nichts für unmöglich. Als Hempel sich in die Idee verstrickt, für den New-York- Marathon zu trainieren, um Elfie zu imponieren, gibt es für ihn kein Zurück. Untrainiert steht er eines Tages am Berliner Flughafen und würde sich am liebsten in einem Loch vergraben. Zu Hempels Rettung wird das vertrauliche Projekt des Architekten Valentin, das überforderten Menschen Zuflucht vor Zumutungen der Moderne bietet, ehe sie darunter zusammenbrechen. Auf einem sonderbar geschnittenen Grundstück betreibt Valentin mit wenigen Vertrauten ein Hotel, dessen Gäste sich dort quasi die Decke über den Kopf ziehen können. Der Grundriss des Gebäudes mit seinen Gängen und Tunneln ermöglicht, dass Valentins Schützlinge außer dem Barmann niemanden zu Gesicht bekommen. Als Beobachterin fühlte ich mich in der Geschichte wie in einem gigantischen Escape-Room-Abenteuer. Von seiner hochgelegenen gläsernen Kanzel hat Valentin wie ein Kapitän auf der Brücke aus rundum alles im Blick. Doch den neuen Gast mit übersichtlichem Gepäck hat er nicht eingeladen – wie konnte das passieren? In Valentins Reich kann Hempel vor Elfies unerschütterlichem Optimismus fliehen, Friederike vor der Überforderung der Mutterschaft und Linda vor ihrer Höhenangst – nur, wovor flieht eigentlich Valentin? Anne Köhlers Figuren sehen sich selbst als Gescheiterte, scheinen im Urteil anderer Menschen jedoch völlig andere Persönlichkeiten zu sein. So wird Valentin in Friederikes Augen zum „Pullunder“, Hempel zum „jungen Mann“ und Friederike zur „Professorin“. Aus der Konfrontation von Innensicht und Außensicht entstehen geradezu groteske Ereignisse, als die Figuren ihre Zuflucht überraschend verlassen und sich mit der brandenburgischen Provinz konfrontiert sehen. „Nicht aus der Welt“ erzählt elipsenhaft von bisher verdrängten Macken und emotionalen Altlasten der Figuren. Die Konflikte und Motive der Handelnden waren mir jedoch zu berechenbar; sie schienen direkt aus dem Verzeichnis psychiatrischer Diagnosen zu stammen. Friederikes vollständiges Set an Symptomen einer postpartalen Depression, wie auch die komplizierten Mutter-Sohn-Verhältnisse der Männerfiguren, ließen mir zu wenig Raum, zuzuhören und mich selbst in die Innenwelt der Figuren zu versetzen. Nach Anne Köhlers eigener Aussage ein „in turbulenten Zeiten entstandener“ Roman, der sich als absurde Anti-Weihnachtsgeschichte lesen lässt.

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