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gwyn

Posted on 9.10.2022

«Charlie ging die Tidepool Street entlang, wich Schlaglöchern aus, und seine Laufschuhe knirschten an diesem windstillen späten Vormittag auf dem Schotter. Sechs Häuser kauerten sich hinter Eukalyptusbäumen und Gestrüpp. Er überquerte den kreuzenden Klippenpfad, duckte sich unter Teebäumen und stieg schließlich die aus Bahnschwellen gesetzten Stufen hinunter. Am unteren Ende gab es einen niedrigen Drahtzaun; auf einem der Holzpfosten stand eine abgewetzte pinkfarbene Kindersandale.» Charlie Deravins ist vom Dienst bei der Kriminalpolizei im trostlosen Menlo Beach in Australien suspendiert, weil er seinen Vorgesetzten geschubst hat, so lange, bis die Sache geklärt ist. Nun kann er sich intensiv um seine private Ermittlung kümmern, die ihn nicht loslässt: Was ist vor zwanzig Jahren mit seiner Mutter geschehen? Es war ein ereignisreicher Tag: Charlies erster Einsatz als Polizist, sein erster Fall: Der neunjährige Billy wurde vermisst. Seine Sachen fanden sich am Strand. War er ertrunken oder wurde er entführt? Am gleichen Tag, als der Junge fortlief, verschwand auch Charlies Mutter spurlos – beide tauchten nie wieder auf. Als Hauptverdächtiger zum Fall seiner Mutter galt damals Rhys Deravins, Charlies Vater, ein Detective Sergeant. Er hatte die Mutter für eine andere sitzen gelassen, man stand kurz vor der Scheidung, und seine Frau wollte das Haus verkaufen, was ihm nicht passte. Man unterstellte Rhys Habgier als Tatmotiv. Doch er wurde vom Tatverdacht freigesprochen, eher mangels an Beweisen, mangels einer Leiche. Denn die Kollegen deckten ihn: Er arbeitete zur angenommenen Tatzeit an einem Überfall auf einen Geldtransporter – er war allerdings ganz allein auf Spurensuche. Charlie glaubte dem Vater, sein Bruder hielt ihn für einen Mörder. Und so ging ein Riss durch die Familie. «Er war einer dieser altmodischen Männer, die das Wort Frau nicht in den Mund nahmen. Eine Dame war respektabel. Eine Frau war unabhängiger. Also komplizierter.» Die nagende Ungewissheit treibt Charlie bis heute immer wieder zurück zu den Ermittlungen – und in die Abgründe seiner eigenen Familie. Er ist nun selbst Vater einer erwachsenen Tochter. Einer, der in der Familie stets mit Abwesenheit glänzte, verstrickt in seine privaten Recherchen – bis seine Frau ihn verließ. Wo soll er heute anfangen, zu ermitteln? Er beginnt die alten Zeugen zu befragen, in der Hoffnung, irgendeine neue Kleinigkeit zu finden, die damals übersehen wurde – was aber bei den Leuten nicht so gut ankommt. Schon gibt es Beschwerden bei der Polizei, die bei seiner Vorgesetzten landen. Doch plötzlich wird bei Ausgrabearbeiten auf einem unbebauten Grundstück eine Leiche gefunden. Das Nebenhaus hatte damals Charlies Mutter gemietet ... «Quigley gab ihm ganz automatisch die Hand, während alle möglichen Emotionen hinter der Müdigkeit aufflackerten: Überraschung, Unbehagen, Kalkül.» Wie immer zeichnet Disher hervorragend seine Figuren heraus. Es sind Gesten und Dialoge, das Nichtgesagte, das sie in Szene setzen. Überhaupt ist Disher ein Meister der Leerstellen und Dialoge. Wir haben es hier mit drei Geschichten zu tun, die oberflächlich gesehen nichts miteinander zu tun haben – aber letztendlich das Thema sind. Der Originaltitel lautet «The Way It Is Now», sehr passend, denn die Welt ist in Bewegung. Gesellschaftskritik am Macho, den Typen, die sich alles erlauben, ohne bestraft zu werden, die absolute Loyalität gegenüber dem Freund und Kollegen, was immer geschieht. Die Polizisten der alten Garde sind das Gesetz; stellen sich gern auch mal darüber. Polizisten haben nur Cops als Freunde, sie stehen Schulter an Schulter, wie eine Wand. Mehrere Generationen der Protagonisten kommen ins Spiel: die Alten, die festhalten wollen, die Mittleren, die mal sich mal hier und dort positionieren, die Jungen, die alles über Bord werfen, die ganz andere Sorgen haben, bzw. junge toxische Typen, die es den Alten nachmachen. Wandelnde Gesellschaftsbilder, eine wandelnde Welt; kurz erwähnt die tobenden Buschfeuer, die Hitze und ein seltsamer Virus aus China, der umgeht und einen Protagonisten in Japan auf der Kreuzfahrt erwischt. «‹Charlie geriet ins Stottern. «Ach weißt du, ich wollte ein wenig den Kopf einziehen. Ich bin ziemlich belästigt worden.› ‹Das reicht mir nicht, Charlie. Wir sind doch prima miteinander ausgekommen.› ‹Ich weiß. Hör mal Anna, es ist ... ich wollte nur ...› Er schluckte. ‹Ich will dich nicht mit meinem ganzen Sch... mit hineinziehen.› ‹Ich will aber hineingezogen werden. Ich liebe dich.» Während Charlie seine neue Freundin aus den Geschehnissen herauszuhalten will, steht sie ihm eng beiseite, möchte ein Teil von seinem Leben sein, seine Gedanken erfahren, mit ihm reden. Völlig das Gegenteil zu seiner Ehe. Charlie schnappt nach Luft. Auch diese Polizei-Psychologin erwartet von ihm, dass er sich öffnet. Ist er wirklich dazu bereit? Charlie ist ein Mann, der sich selbst oft im Weg steht, ein Gerechter, ein Aufrechter, der den Klüngel im Kollegenclan verabscheut, die toxische Männlichkeit per Anwesenheit und das gegenseitige Decken. Darum ist er unbeliebt. Er ist empathisch, doch gleichzeitig ein Stand-alone, der alles mit sich selbst ausmachen will. Eine neue interessante Figur im Portfolio der Kriminalromane von Garry Disher. Gern mehr davon. Eine ausgeklügelte Geschichte mit Wendungen, feine atmosphärische Landschaftsbeschreibungen und die ihrer Bewohner. Das kombiniert mit einer spannenden, dichten Story ist wieder ein Lesevergnügen. Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter zweimal der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.

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