Profilbild von Bris Buchstoff

Bris Buchstoff

Posted on 6.8.2022

Kunst entsteht in Seitwärtsschritten, Kunst ist diagonal, ist Illusion Vorab eine Warnung - dies ist Lobhudelei erster Güte, zu etwas anderem bin ich bei David Mitchell wohl nicht mehr fähig. Für mich ist er derzeit der absolute Star am Autorenhimmel. Er lässt sich nicht auf ein Genre festlegen, noch nicht einmal in seinen einzelnen Werken. Dabei bespielt er die Klaviatur der literarischen Genres mühelos und virtuos, findet immer den passenden Sound, egal ob klassischer Roman, Sci-Fi, Fantasy, Schauergeschichte oder in einem grandiosen Mix aus all dem. Was dabei immer bei mir ankommt ist eine überbordende Freude am Fabulieren, am Geschichten erzählen und das überträgt sich - zumindest ist das bei mir der Fall - in positive Laune und schwelgerische Lesestunden. Seine Romane kann man einzeln und voneinander getrennt lesen, doch tatsächlich verfolgt er damit ein Meta-Projekt, innerhalb dessen alle Geschichten mitenander verbunden sind. Das ist mir spätestens bei der Lektüre seines letzten, schmalen Romans Slade House aufgefallen. Monatelang hatte ich mich auf die Geschichte des raschen Aufstiegs von Utopia Avenue gefreut, über 700 Seiten warteten darauf, gelesen zu werden und als ich das Buch dann aufschlug und zu lesen begann, gab es kein Entkommen - ich war mitten drin, nicht nur dabei, als vier unterschiedliche Menschen, die eigentlich nur die Liebe zur Musik gemeinsam hatten, zusammengeworfen wurden, um neben vielen anderen herausragenden Künstler:innen musikalische Grenzen zu sprengen und damit so etwas wie Unsterblichkeit zu erlangen. Und manchmal hatte ich das Gefühl, die vier sitzen mit mir in einem Raum und sehen mir zu, wie ich ihrer Geschichte folge... Loslassen (fast) unmöglich Lange habe ich dafür gebraucht, diesen Wälzer loslassen zu können. Die Lektüre war so soghaft, dass ich mich gebremst und die Leseeinheiten gestreckt habe. Über Wochen habe ich mich geduldet und Monate hat es gedauert, bis ich auch nur einen Hauch von dem in Worte fassen konnte, was dieses Buch ausgelöst hat. Mitchells Protagonisten, die im Übrigen viel mehr für mich wurden, belebten meine Umgebung, ich träumte von ihnen, wollte ihre Geschichten unbedingt weiter erzählt bekommen und gleichzeitig fürchtete ich deren Ende. Wie schon in seinem Roman Die Knochenuhren zeigte er mir, was er erzählte. Er beschrieb nicht, er schickte Bilder direkt in meinen Kopf. So lebendig, dass mir einzelne Szenen auch jetzt, lange nach der Lektüre, sofort wieder in Erinnerung kommen. Alles an diesem Roman hätte wirklich so passiert sein können und dennoch ist der Stoff der da ausgebreitet wird, so vielschichtig, dass jede*r Leser*in sich seine persönliche Auslegung herausgreifen kann. Ein changierender Stoff, der von strahlendem Glanz bis zu matter Düsternis alles beinhaltet. Lektüre auf Augenhöhe Obwohl der Einstieg in den Roman ein direkter, fast abrupter ist - wir folgen Dean Moss, später Sänger, Bassist und einer von drei Songwriter*innen von Utopia Avenue, in eine für ihn äußerst unangenehme Situation - hatte ich sofort das Gefühl, hier bin ich richtig, das fühlt sich wie ein großartiges Abenteuer und gleichzeitiges Ankommen an. HIer wollte ich nicht mehr weg. Paradox, denn die Geschichte fing ja erst an und ich wusste nicht, wohin sie mich führen würde. Aber Mitchell nimmt geneigte Leser*innen gekonnt und so weit wie nötig an die Hand und lässt sie gleichzeitig wieder völlig frei durch seine Geschichte stromern, hat Vertrauen in sie und begegnet ihnen auf Augenhöhe. Überraschende Struktur Während im Wolkenatlas gerade auch die ungewöhnliche Struktur den Reiz der Erzählung ausmachte, hat Utopia Avenue eine fast rigide Chronologie aufzuweisen. Stringent, aber niemals langweilig, lässt Mitchell auch hier Plottwists einfließen, die völlig realistisch sind. Und mich zeitweise - und nicht das erste Mal in Bezug auf seine Romane - aus dem Tritt brachten. Eine Stelle so sehr, dass ich das Buch zuklappte, bei Seite legte und mir dachte "nein, das kann nicht sein, so geht das nicht". Die Auflösung dessen, was passiert war hätte mich etwas beruhigen können, hätte ich direkt weitergelesen. Aber ich konnte nicht, ich trauerte geradezu. Und das liegt wohl daran, dass Mitchell seine Protagonisten nicht äußerlich, sondern durch ihre Handlungen beschreibt. Er legt mich nicht fest auf Äußerlichkeiten, sondern zeigt mir ihr Wesen, realistisch, nicht immer sympathisch aber eben menschlich. Noch jetzt merke ich, wie ich ein wenig erschrecke, wie direkt mich das trifft. Paradise is the road to Paradise Inhaltlich ist schon einiges zu diesem weiteren Baustein des Meta-Buchprojektes (siehe mein Beitrag zu Slade House) gesagt worden, deshalb nur kurz dazu: Vier Musiker:innen werden durch einen visionären Manager zusammengewürfelt - die Stilrichtungen, die sich in der Band treffen spiegeln so ein bisschen Mitchells großes Talent einen ganz eigenen Genremix zu generieren: Dean Moss, der Bassist, ist der Hallodri der Band, und doch ist der Blues seine Klangfarbe. Elf Holloway (bei ihrem Nachnamen hatte ich ein Klingeln im Ohr, als ob er mir in einem von Mitchells Romanen schon untergekommen wäre) ist der feministische Anteil der Band, geniale Sängerin und vor allem im Folk zuhause. Griff Griffin, (merkwürdigerweise mir von allen fast am liebsten) wortkarg, aber wenn er etwas sagt, dann sitzt es - genau wie sein durch den Jazz geschultes Spiel an den Drums (interessanterweise kommen ja viele richtig gute Schlagzeuger ursprünglich vom Jazz). Last but not least dann noch Jasper de Zoet -  genialer Guitarrist mit soziophobischen Ansätzen, dessen Nachname gleich an Die tausend Herbste des Jacob de Zoet denken lässt (und das zu Recht) und der quasi in sich das verbindende Element für das Meta-Buchprojekt trägt. Zusammengewürfelt werden sie von ihrem charismatischen, aber bislang eher erfolglosen Musikmanager Levon Falkland. Let there be music Nach anfänglichen Startschwierigkeiten, aufgrund des Rahmen sprengenden, avantgardistischen Musikstils der Band, gelingt der Erfolg recht rasch. Das lässt an die Anfänge der Beatles oder der Rolling Stones denken, die in kurzer Abfolge viele Alben herausbrachten, die heute zu den zeitlosesten und besten Musikstücken der Pop- und Rockmusik gehören. Überhaupt ist spürbar, dass Mitchell sein Sujet sehr gut kennt, tief eingetaucht ist in die Materie, inklusive der Lektüre von Joe Boyds White Bicycles. Wer dieses Buch kennt, weiß, dass Mitchell die Szene extrem gut eingefangen hat und die "Dichte" an außergewöhnlichen Musiker:innen und Bands in den 1960er Jahren unglaublich war. Alles war möglich und so ist es auch für Utopia Avenue. Leider aber eben nur fiktiv - es wäre wunderbar, könnte man sich die Musik der Konzeptalbern die dem Buch die Kapiteleinteilungen verschafften und inhaltlich so gut korrespondieren, auch hören. Zwei Alben schaffen sie, bevor sich die Band trennt, inmitten der Produktion eines dritten Albums, das ihren Ruhm hätte zementieren können. Weshalb müsst ihr selbst lesen. Das Meta-Projekt - ein dreidimensionales Palimpsest Mitchell Fans werden einige Anknüpfungspunkte an seine früheren Titel erkennen - und das sowohl in die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Über Geschichten, Personen, Ereignisse, Namen und kleine Details. Alles was passiert, hat eine Wirkung. Jede Handlung hat Ressonanz - über alle Zeitebenen hinweg. Da gehen Silberfäden hinaus, die alles zusammenhalten, die sogar mich als Leserin einbinden und demütig machen, weil mir hier ein Meta-Projekt zugetraut wird - ich betone noch einmal, man kann die Bücher auch alle einzeln und mit großem Genuß lesen. Es ist als ob ich gewohnt wäre, mit dem Hubble-Teleskop in die Sterne zu sehen und nun plötzlich durch ein James Webb alles neu erblicken darf. David Mitchell hat mit Utopia Avenue nicht nur einen großartigen Roman erschaffen, sondern einem dreidimensionalen Palimpsest eine weitere schillernde Schicht aufgetragen, durch die die vorhergehenden scheinen. Mein absolutes Lesehighlight für viele Jahre - da bin ich mir sicher. Bitte lest das unbedingt und verschenkt es - Weihnachten wir noch schöner mit einem solch großartigen Buch. "Sie arbeitet weiter, verbindet eine gelungene Stelle mit der nächsten. Kunst entsteht in Seitwärtsschritten. Kunst ist diagonal. Sie dreht das Ganze probehalber um und spielt Bassarpeggien, über die sie eine Melodie legt. Kunst ist Illusion. [...] Zum Schluss greift sie das Anfangsthema wieder auf. Es hat sich mittendrin verändert, so wie Unschuld sich durch Erfahrung verändert."

zurück nach oben