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Buchdoktor

Posted on 15.7.2022

Nina und Njål forschen beruflich als Glaziologen in und über Spitzbergen/Svalbard; sie sind Eltern der kleinen Lotta. Ein neu zu vergebener Forschungsauftrag lässt die Konkurrenz zwischen den Partnern eskalieren – beruflich und als Eltern. Nina hält sich für die ideale Besetzung im Job, weil es sich um ihr Promotionsthema handelt, Njål als ihr ehemaliger Mentor sieht sich in der Hierarchie jedoch am vorrangigen Platz und beansprucht die Stelle selbst. Schlichtungsgespräche werden geführt. Ehe für die Reise nach Spitzbergen gepackt werden kann, muss über das Sorgerecht für Lotta entschieden werden. Hätte Njål das Sorgerecht, dürfte er Lotta langfristig mit nach Spitzbergen nehmen; die Inseln gehören zu Norwegen. Nina will das unbedingt verhindern. Sie fürchtet, ihre Tochter wäre beim Vater nicht sicher, da Njål offenbar schwer zwischen seinen Rollen als fürsorglicher Vater und raubeiniger Naturbursche einer Wikingergruppe differenzieren kann. Da Nina nach Lottas Geburt an postpartaler Depression mit Zwangsgedanken erkrankt war, könnten ihre Ängste Teil ihrer Erkrankung sein. Ohne fachärztliches Gutachten kann ein Gericht hier kaum seriös entscheiden. Njål wiederum könnte Lotta allein als Spielstein benutzen. Erhält er den Auftrag und das Sorgerecht, hätte er Nina als Wissenschaftlerin und als Mutter ausgeschaltet. Zwischen Kinderwunsch, Wahn, Ängsten und Dominanzstreben eskaliert der Plot Schritt für Schritt zwischen drei Icherzählern: Njål hatte seine Partnerin Sol nach glücklosen Schwangerschaften für die schwangere Nina verlassen, Sol hofft noch immer, Njål mit einer Schwangerschaft an sich zu binden - und Nina nach ihrer psychischen Erkrankung bleibt ein unsicherer Faktor. Schließlich reisen noch vor der Sorgerechtsentscheidung die Eltern mit Lotta nach Svalbard, um sich dem norwegischen Jugendamt zu entziehen. Sie wollen dort einen weiteren Versöhnungsversuch unternehmen, behaupten sie. In einer winzigen, abgelegenen Hütte auf sich allein gestellt, muss sich zeigen, ob Njål der Supervater ist, für den er sich bisher gehalten hatte – und wer unter extremen Bedingungen die Rolle der Bärenmutter einnehmen wird, die ihr Kind verteidigt. „Wütende Bärin“ zeigt sich als hochaktueller Roman der Epoche nach MeToo, in der Karrierechancen, Care-Arbeit und Verantwortung zwischen Männern und Frauen noch immer nicht befriedigend verteilt sind. – Auch nicht im vorbildlichen Norwegen. Holms dritter Roman verbirgt Vorgänge wie Menstruation, Geburt, glücklose Schwangerschaft, aber auch sexuelles Begehren nicht hinter geschlossenen Türen. Sehr direkt und sinnlich geht es um Wahrnehmung und Erzeugung von Körperbildern, die Elternrolle, wissenschaftlichen Ruhm und nicht zuletzt darum, wie manipulierbar wir sind. Drei Icherzähler ohne kritisches Gegengewicht haben mich hier grübeln lassen, wie weit ich durch sie manipulierbar bin. Eben weil in der Literaturkritik das Schreiben über Frauenalltag durch Autorinnen gern als rein biografisches Jammern abgetan wird, ist „Wütende Bärin“ ein moderner Roman über eine Generation, die größere Freiheiten hat als jede andere zuvor – und sich Entscheidungen gern möglichst lange offenhält.

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