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Buchdoktor

Posted on 8.7.2022

Jim, Polizist in der Kleinstadt Tall Oaks, kann Beruf und private Gefühle nicht mehr trennen. Er hört obsessiv Bänder der Vernehmung von Jess ab, deren kleiner Sohn Harry verschwunden ist. Der Fall hat Jim förmlich aufgesaugt, er wirkt seiner Zeugin quasi kritiklos verfallen. Da Jess‘ über eine üppige Erbschaft verfügen kann, liegt eine Entführung nahe; eine Lösegeldforderung ist bisher jedoch nicht eingegangen. Jess scheint Harry hauptsächlich benutzt zu haben, um ihren Mann Michael an sich zu binden. Tall Oaks wirkt wie ein Fluchtpunkt für exzentrische Typen, die sich höchst sonderbar verhalten und den Fall Harry unnötig zu komplizieren scheinen. Manny, der sich eine Karriere als Kleinstadt-Mafioso einbildet, Jerry, der als ehemaliger Sonderschüler froh über seinen Job im Fotogeschäft ist, bis zum älteren Ehepaar mit unerfülltem Kinderwunsch sind das längst nicht alle Figuren, über deren sonderbares Verhalten Jim sich den Kopf zerbrechen muss. Anlässlich Louise McDermotts Protzhochzeit mit 1000 Gästen kommt schließlich der beinahe obszöne Reichtum einiger Leute in Tall Oaks auf den Tisch, die die Geldbündel nur so herumliegen haben. Chris Whitaker hat einen Blick für kleine Leute, die sich ehrlich mit unspektakulären Jobs durchschlagen und kann unbestreitbar Sympathien für sie wecken. Glaubhaft vermittelt er Emotionen verlassener und verwaister Kinder und Eltern (die häufig Rollenzuschreibungen nicht genügen) und deren Depressionen und Schuldgefühle. Als alle miteinander verstrickten Figuren eingeführt sind, gelingt Whitaker die Entwirrung seines Tableaus durchaus fantasievoll, wenn auch manche Lösung zu zügig aus dem Hut gezaubert wirkt. Für den ganz großen Wurf (der in Deutschland erst nach Whitakers drittem Roman auf den Markt kommt) zeigt Whitakers Kleinstadtroman jedoch auch Schwächen. Zu viele psychisch beladene Sonderlinge, die Gutes tun wollen, zu viel altes Geld und neu erbaute Paläste als Kulisse, zu viele Klischees. Die Darstellung von Kultur, Identität und sexueller Orientierung hätte ich mir weniger amerikanisch verklemmt und verdruckst gewünscht.

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