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Buchdoktor

Posted on 25.4.2022

Als Stefan Hertmans 1979 noch während seiner Studentenzeit das heruntergekommene mehrstöckige Haus in Gent wahrnimmt, ist dessen Nachbarschaft längst kein angesehenes Patrizierviertel mehr. Der verwahrloste Kasten am zugeschütteten Kanal ist billig und ein Teil des Kaufpreises geht bar über den Tisch. Erst allmählich wird Hertmans aufgehen, dass in diesem Haus Adriaan Verhulst aufgewachsen ist, dessen Vater während der Besetzung Gents durch die deutsche Wehrmacht ein einflussreicher Kollaborateur war und nach 1945 als Kriegsverbrecher verurteilt wurde. Bei Professor Adriaan Verhulst fiel Hertmans durch die Geschichtsprüfung. Selbst Historiker, wird Hertmans Recherche von dem Glücksfall profitieren, dass nicht nur Vater und Sohn Verhulst geschrieben haben, sondern auch Adriaans Mutter, seine beiden Schwestern und Griet, die Geliebte seines Vaters, mit der er mit Wissen seiner Frau die gesamte Zeit seiner Ehe eine Beziehung hatte. Hertmans Biografie eines Kriegsgewinnlers und Kollaborateurs, dem erst die SS-Uniform Ansehen und Bedeutung gab, entstand aus Zeitzeugnissen, Gesprächen mit den Schwestern Aletta und Suzanne und einem Anteil Fiktion, wie manches gewesen sein könnte. Hertmans, 1951 geboren, setzt sich mit Verhulsts Biografie auch mit der Generation seines Vaters und deren Relativierung der Nazi-Verbrechen auseinander – und muss am Ende erkennen, dass er selbst das Studium der Prozessakten bis zum Schluss vermied. Fazit Verglichen mit „Krieg und Terpentin“ konnte mich die Geschichte der Familie Verhulsts weniger fesseln, weil der alte Willem, sich als Opfer stilisierend und seine Schuld an Kriegsverbrechen relativierend, einfach zu unsympathisch wirkte. Für Hertmans historische Recherche und die selbstkritische Auseinandersetzung mit seinem eigenen blinden Fleck als Historiker habe ich jedoch höchsten Respekt. --- Hertmans Die Fremde, Krieg und Terpentin und Der Aufgang lassen sich als historische Trilogie lesen.

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