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Buchdoktor

Posted on 8.3.2022

Bevor Dilek nach Deutschland flog, war ihr immer wieder eingeschärft worden, dort vorsichtig zu sein, sich nicht in Sicherheit zu fühlen. Könnte jemand sie dort auch nur ansatzweise für eine Oppositionelle halten, würden türkische Behörden davon erfahren und sie würde bei ihrer Rückkehr in die Türkei sofort verhaftet. Selbst mit deutschem Pass müsse sie ständig auf der Hut sein, dass andere sie erkennen. Cafés und mögliche Treffpunkte türkischer Oppositioneller in Istanbul waren zerstört oder ihnen war die Lizenz entzogen worden. Seit der Schließung ihres Clubs musste Freundin Hilal eine Augenklappe tragen … Zuletzt hatte Dileks Leben nur aus Angst bestanden; Angst am Arbeitsplatz, Angst in der Familie, Angst in der Liebesbeziehung. In Deutschland trifft Dilek ihre Mutter Elif und Tante Ezgi. Ihre Cousine Ayla hatte sie schon ewig nicht mehr gesehen, obwohl Dilek als Kind ihre Ferien lange gemeinsam mit Ayla bei Tante Ezgi in der Türkei verbrachte. Sie weiß bis heute nicht, warum ihre Mutter und deren Schwester nach einem Streit den Kontakt abbrachen. Bisher war Dilek sicher, dass niemand sie mit „Kangal“ aus den Sozialen Medien in Verbindung bringen kann – zu sicher? In Istanbul kommt es derweil zu Verhaftungen unter Studenten, die eine bestimmte Person interviewt hatten. In Deutschland lebt Ayla in Trennung von einem gewalttätigen Mann, sie wohnt übergangsweise bei Melek, die sie seit ihrer Schulzeit kennt. Ausgerechnet Melek, die alles kritisiert, das nur irgendwie zu kritisieren ist. Ihre Wohnungssuche ähnelt verblüffend Dileks Lavieren, nur nicht aufzufallen; denn wer Ayla behilflich ist, könnte sie verraten. Aylas Eltern rackerte sich als Einwanderer der ersten Generation in Frankfurt mit einem Lebensmittelladen ab. Irgendwann gab es kein Zurück in die Heimat mehr. Doch selbst in Freiheit zählte nur, was andere Leute über einen reden könnten, und niemals eine Meinung zu äußern, um andere nicht ungewollt in Gefahr zu bringen. Dilek, Ayla, Tekin - in extrem kurzen, verschachtelten Episoden erzählen innerhalb einer Rahmenhandlung, die aus einer Gruppe heraus vermittelt wird, drei Figuren aus ihrem Leben im Jahr 2016 zwischen der Türkei und der türkischen Community Frankfurts. Die Texte und eiligen Telefongespräche wirken durch das Episodenhafte gehetzt, ziehen einen beim Lesen in ein alles dominierendes Misstrauen hinein. Gefahr durch Tratsch und Denunziation liegt wie eine dunkle Wolke über den drei Erzählstimmen. Niemandem trauen zu können und selbst in der Familie äußerst vorsichtig zu lavieren, macht das Leben dieser Figuren unberechenbar.

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