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Wordworld

Posted on 27.9.2021

Femi Fadugbas brandneuer Scie-Fie-Thriller, der übrigens heute seinen Buchgeburtstag feiert, ist mir in der Verlagsvorschau ins Auge gestochen, da er die beiden komplexen Themenfelder Quantenphysik und Race Relations verbindet. Wie es in einem Jugendbuch sowohl um die Gang-Kultur in London als auch um die wissenschaftliche Fundierung von Zeitreisen gehen sollte, war mir ein so großes Rätsel, dass ich unbedingt wissen musste, wie der Autor diese beiden Aspekte zu einem YA-Thriller vereinen will. Nachdem ich "The Upper World" nun gelesen habe, weiß ich wie: mit zwei sympathischen Protagonisten, einem humorig-flotten Schreibstil und einer Menge origineller Ideen als Kleber. Doch auch wenn "The Upper World" ein wirklich ungewöhnliches Jugendbuch ist, klemmt es an einigen Ecken und Enden noch ein bisschen... Doch beginnen wir wie immer mit der Gestaltung. Auf dem schwarzen Umschlag der gebundenen Ausgabe ist mittig ein knallbuntes Bild eines Jungenkopfes zu sehen, der von Blitzen, pixeligen Bildern und Stadtfragmenten umgeben ist, welche aus seinem Kopf hervorbrechen zu scheinen. Futuristisch, knallig, explosiv - diese Adjektive fallen mir zur Gestaltung ein und mit diesen kann man auch die Geschichte gut umschreiben. Mit "The Upper World" hat der cbj Verlag den englischen Originaltitel übernommen, der auf Platons Höhlengleichnis anspielt, nach dem wir Menschen nur die geheimnisvollen Schatten einer uns verborgenen "oberen Welt" sehen können, die uns aber verborgen und deshalb Gegenstand von Spekulationen und Deutungen bleibt. Um genau diese "obere Welt", die jenseits von unseren Illusionen über das, was wir Realität und Wirklichkeit nennen, liegt und an die wir uns nur über Mathematik, Physik und Philosophie annähern können, geht es in diesem Jugendroman. "The Upper World" verbindet also antike Philosophie in Form von Platons Höhlengleichnis mit mathematischen und physikalischen Grundsätzen, um eine Sicence-Fiction-Welt zu schaffen, die Zeit, Materie und Energie in einen realistischen Zusammenhang stellt, aber Raum für eine abenteuerliche Handlung lässt. Erste Sätze: "Es braucht schon eine beeindruckende Mischung aus Dämlichkeit und Pech, um mitten in einen Bandenkrieg zu geraten, obwohl man nicht einmal Mitglied einer Gang ist. Ich schaffte das in weniger als einer Woche. Und das war noch vor der Sache mit dem Zeitreisen." Den ersten Kontakt mit dieser Science-Fiction-Welt, der "oberen Welt" haben wir zusammen mit dem ersten Ich-Erzähler, dem afrikanisch stämmigen Esso, der nach einem Autounfall in eine andere Realität eintritt, von dem er in einem Notizbuch von seinem verstorbenen Vater schon gelesen hat. Hitze, Blitze und Projektionen, die Szenen - vergangene und kommende - aus seinem ganzen Leben zeigen? Zunächst ist er sich noch sicher, dass er sich so stark den Kopf gestoßen hat, dass er verrückt geworden ist. Aber als die ersten der gesehenen Szenen sich bewahrheiten, muss er einsehen, dass an dem Gefasel über die "obere Welt" doch etwas dran sein muss und sein Vater vielleicht doch kein sektentreuer Spinner war. Doch was bedeutet das für sein weiteres Leben, wenn alle kommenden Geschehnisse schon festgeschrieben sind? Und vor allem: wird dann womöglich auch die schrecklichste Vorhersage von allen wahr...? Während wir dem jungen Esso dabei zusehen, wie er im Jahr 2020 alles tut, um zu verhindern, dass eintritt, was er in der "oberen Welt" gesehen hat, um sich, seine Freunde und seine große Liebe Nadia zu retten und sich aus der Schusslinie zwischen zwei Gangs heraus zu manövrieren, erhaschen wir durch einen zweiten Handlungsstrang einen Blick in die Zukunft. Neben Esso erzählt nämlich auch die elternlose Rhia aus der Ich-Perspektive, wie sie im Jahr 2035 auf der Suche nach Antworten über ihre Herkunft ist. Als der ominöse Nachhilfelehrer Dr. Esso bei ihr auftaucht und ein Bild von ihrer Mutter bei sich trägt, scheint sie den Antworten so nah zu sein, wie noch nie zuvor. Doch statt ihr von ihrer Familie zu erzählen, stellt er ihr Physikaufgaben und faselt von Zeitreisen. Je mehr Rhia aber über Energie, Zeit und Dimensionen erfährt, desto mehr Hoffnung bekommt sie: ist es vielleicht tatsächlich möglich, Geschehenes ungeschehen zu machen und ihre Mutter zu retten...? "Feind" ist nur ein Etikett, das wir jemandem verpassen, dessen Vergangenheit und Zukunft wir noch nicht kennen, jemand, dessen Geschichte noch erzählt werden muss." Der nigerianische Femi Fadugba hat einen Master in Quantenphysik von der Universität Oxfords und bringt in seinem Romandebüt zwei Welten zusammen, die er selbst gut kennt: die der Physik und die der Straßengangs im Süden Londons. Erstere Welt spiegelt sich in dem bereits oben erwähnten Science-Fiction-Anteil der Geschichte wider, welcher auf einem Grundgerüst aus tatsächlicher Mathematik und Physik gebaut ist. Mit seinem Doktor in Quantenphysik hat der Autor uns als Lesern natürlich einiges voraus, aber egal ob Einsteins Relativitätstheorie, das Paradoxon der Lichtgeschwindigkeit, der Satz des Pythagoras, Unschärfetheorie oder Gravitation - der Autor hat sich große Mühe gegeben, sich einfache und eindrückliche Beispiele zu überlegen, um seine Überlegungen zu untermauern und den Lesern nahe zu bringen. Neben den Beispielen benutzt er auch viele greifbare Analogien und schlägt aus seinem lockeren, humorvollen Schreibstil Kapital, um die Geschichte trotz der Realitätsbezüge nicht trocken erscheinen zu lassen. Ich habe schon wirklich von einer ganzen Menge gut durchdachter Scie-Fie-Welten gelesen, aber eine, die auf wissenschaftlich fundierten Annahmen beruht und dabei trotzdem so unterhaltsam geschrieben ist, sprengt wirklich den Rahmen. Leider schöpft der Autor meiner Meinung nach seinen innovative Worldbuildingansatz viel zu wenig aus und hat mit zwei Problemen zu kämpfen. Erstens ist durch die Bindung an die mathematische Realität der Handlungsspielraum eingeschränkt und sobald die Realität zugunsten der Dramatik gedehnt wird, wird es sehr schnell unrealistisch. Dies ist vor allem im Showdown ein Problem, bei welchem mir die Handlung für den zuvor sorgsam aufgebauten physikalischen Hintergrund viel zu weit ins Magische abgedriftet ist. Das zweite Problem ist, dass Femi Fadugba seinen LeserInnen zu wenig zutraut und er seine Ausführungen viel zu selten in die Handlung integriert. Ich habe das Gefühl, der Autor wollte seine LeserInnen nicht mit zu vielen Exkursen überfordern und garantieren, dass man die Geschichte auch ohne Verständnis von Mathe und Physik verstehen kann, dabei aber die dargelegten Überlegungen zu stark vom tatsächlichen Geschehen getrennt. Auf diese Weise wirkt der Physikanteil an manchen Stellen wie ein störender Randfaktor, der die Handlung davon abhält, wirklich greifbar zu sein. Dadurch dass wir nicht eher oberflächlich in die Thematik einsteigen, hat man außerdem zu keinem Zeitpunkt des Romans das Gefühl, sich auf einer ähnlichen Wissensebene wie die Figuren zu befinden. Ein gutes Beispiel dafür ist, dass der Autor zwar zusätzliche Skizzen, Herleitungen, Rechnungen und Beweise hinten im Anhang eingefügt hat, diese aber nicht aktiv eingebunden werden. So habe ich mich dabei erwischt, nur grob über die Gleichungen hinwegzublättern und mich gar nicht ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Der Autor hätte also meines Erachtens nach entweder seinen Realitätsanspruch zugunsten der Handlung etwas mehr herunterschrauben, oder eben die LeserInnen noch stärker auf die physikalische Gedankenreise mitnehmen müssen, um das, was passiert auch wirklich nachvollziehbar machen zu können. "Jedes Ding und jeder Mensch hinterlässt seine Spur in der vierdimensionalen Raum-Zeit - das ist eine Weltlinie: eine Spur aus Momenten. Physiker zeichnen sie als krumme Linie in einer Grafik. Aber hier - in dieser realeren Realität - ist sie eine lange Reihe von Projektionen, anfangen mit dem Tag, an dem du geboren wurdest, bis zum Augenblick deines Todes." Neben dem Science-Fiction-Anteil hat "The Upper World" aber noch ein anderes, viel handfesteres Herzensthema: den Alltag in einem Londoner Problemviertel. Gangs, Kriminalität, Gewalt, Rassismus, Armut, Perspektivlosigkeit - das sind Probleme, mit denen sich Esso neben dem ungewollten Ausflug in die Zukunft herumschlagen muss. Auch Rhia hat fünfzehn Jahre später ähnliche Probleme und steht vor ungerechten Hürden, sodass es fast unmöglich ist, sich beim Lesen nicht mit den beiden, die schon in jungen Jahren eine Menge aushalten müssen, zu solidarisieren. Während in Erzählperspektive die Milieubetrachtung eine große Rolle spielt, fließen in Rhias Perspektive noch futuristische Erfindungen und Entwicklungen mit ein, mit denen der Autor ebenfalls eine politische Botschaft sendet. Dass die Figuren an sich darüber wenig Zeit haben, sich zu entwickeln, tut meiner Begeisterung für die Geschichte keinen großen Abbruch. Ein wichtigerer Grund, weshalb ich einen Stern bei der Bewertung abgezogen habe, ist das Ende. Dieses wird dem grandiosen Beginn, in Laufe dessen man sich allerlei Hypothesen ausmalt, wie die beiden Handlungsstränge zusammenhängen, weshalb Esso Rhia braucht, um einen Kampf gegen die Zeit zu führen und was die beiden am Ende erreichen wollen, nämlich nicht gerecht. Sowohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch der Showdown, zu dem diese führen habe mich nicht ganz überzeugen können und blieben hinter meinen Erwartungen zurück. Das liegt zum einen daran, dass das tatsächliche Ende für mich viel zu vorhersehbar war. Zum anderen erschienen mir einige Handlungen nicht ganz logisch. "Glauben ist sehen, Esso. Ohne Glaube gibt es keine Hoffnung. Und ohne Hoffnung gibt es nur eine Gasse mit Teenagern, die zu Hashtags werden." Fazit: "The Upper World" ist eine originelle Zeitreise-Geschichte, welche antike Philosophie, mathematische und physikalische Grundsätze und ein reales Gang-Setting im Herzen von London verbindet. Den Bogen zwischen Quantenphysik und Race Relations zu schlagen, gelingt Femi Fadugba allen Zweifeln zum Trotz durch zwei sympathische Protagonisten, einem humorig-flotten Schreibstil und einer Menge origineller Ideen. Leider hapert es etwas am Ende, wo der verrückte Genremix an seine Grenzen stößt...

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