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gachmuret

Posted on 23.7.2021

»Das Private ist politisch.« heißt es seit bereits einem guten halben Jahrhundert. Wirklich bewusst scheint das aber nicht zu sein, zumindest nicht allgemein verbreitet. Şeyda Kurt ruft dies eindrucksvoll in Erinnerung, indem sie aufzeigt, wie tiefverwurzelt Muster patriarchalen, ja zutiefst misogynen Denkens in unserer Kultur sind und dadurch eben gerade auch unsere Liebesbeziehungen prägen und wie sehr wir darin gefangen sind. Ruhig, sachlich und konsequent. Die »romantische Liebe« im bürgerlichen Sinn kommt dabei nicht besonders gut weg und es ist eine herausfordernde, nicht selten schmerzhafte Revision der heteronormativen Zweierbeziehung, die Şeyda Kurt hier vornimmt. Ich hatte mehr als einmal gut Lust, in einem Anflug tiefempfundenen Widerstrebens und mit erheblicher Schnappatmung die Lektüre abzubrechen. Das hätte allerdings auch wenig daran geändert, dass Şeyda Kurt in vielen Punkten offenkundig Recht hat und es alles nichts hilft: Wir müssen uns diesem kulturellen Erbe stellen, wenn wir es ernst meinen mit Freiheit und Selbstbestimmung. Ich bin Şeyda Kurt sehr dankbar, dass sie den alten Begriff der »Zärtlichkeit« mit neuem Leben erfüllt und so Horizonte öffnet für vielfältige Möglichkeiten von Intimität, Zusammenleben, Familie. Ihr Plädoyer für Offenheit, ihre Forderung danach, die eigenen Bedürfnisse klar zu adressieren und auszuhandeln, wie Gemeinsamkeit so gestaltet werden kann, dass sich alle Beteiligten wohl fühlen, finde ich sehr überzeugend. Genauso wie sofort einrichtig wird, dass damit untrennbar Fragen originär politischer, mithin gesellschaftlicher Natur verbunden sind. Eine echte Bereicherung war für mich, dass Şeyda Kurt bei ihrer Darstellung dieses gleichzeitig komplexen wie simplen Themas nicht allein Rückgriff auf die Geistes- und Kulturgeschichte von Platon bis bell hooks nimmt (und nebenbei aufzeigt, dass der Mythos vom Fortschreiten des europäisch-westlichen Denkens als eine Befreiungsgeschichte sich nicht ohne erhebliche Einschränkungen halten lässt), sondern auch ihre eigene Familien-, Lebens- und Erkenntnisgeschichte einfließen lässt. Gerade ihre freimütige Erzählung davon, wie kulturelle Einflüsse sie geprägt haben und welche Neubewertungen sie im Laufe ihres Lebens vorgenommen hat, fand ich sehr spannend. Denn sie zeigt, dass Veränderungen möglich sind und wie befreiend es sein kann, eigene Wege zu suchen und zu gehen. Das Nachdenken darüber wird mich noch lange begleiten und auch mich dazu bringen, das eine oder andere auf den Prüfstand zu stellen und für mehr Zärtlichkeit zu werben. Vielen Dank dafür.

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