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gwyn

Posted on 9.7.2021

Der Anfang: «von vorne anfangen. Du hast jemanden, und dann hast du ihn nicht mehr. Und das ist ungefähr die ganze Geschichte. Nur dass du gesagt hättest, dass man eine andere Person nicht haben kann. oder sollte ich sie sagen? Vielleicht ist es so besser, das würde dir gefallen. Eine sie zu sein in einem Buch. Gut.» Sara, geboren an Titos Todestag, wohnt in Dublin, zusammen mit ihrem irischen Freund und einer selbstgezogenen Avocado, die vor sich hin dümpelt. Wie die Beziehung? Gehört sie hierher? In diesem Roman taucht immer wieder der Satz auf: «Wir sind immer in Bosnien.» Dieser Satz trägt die Geschichte – alles das, was unterschwellig vorhanden ist, aber nicht ausgesprochen wird. Eines Tages wird Sara von Lejla angerufen, woher diese auch immer ihre Telefonnummer hat. 12 Jahre ist es her, seit Sara Bosnien verließ, um an einem besseren Ort ein neues Leben zu beginnen. Die beiden Mädchen waren unzertrennlich seit der Grundschule. Während der Studienzeit hatte Lejla das Band zerrissen – und nun verlangt sie: «Du musst mich abholen!» Lejla will abgeholt werden, besitzt zwar ein Auto, kann aber nicht fahren – und sie will nach Wien. Armin ist dort. Sie weiß, wie man Sara fängt. Lejla bestimmt und Sara springt. So war es schon immer. Sara nimmt ein Flugzeug nach Zagreb, fährt im Bus durch den Balkan bis nach Bosnien – nach Mostar, denn hier wohnt Lejla heute. Zunächst beobachtet Sara Lejla, die in orientalischen Trachten kellnert, fragt sich, wie sie hierhergekommen ist. Die Begrüßung ist kühl, fast, wie zwischen Taxifahrer und Fahrgast, aber doch vertraut. So sitzen sie in einen klapprigen Opel Astra und fahren los: Bosnien, Kroatien, Slowenien, bis nach Österreich. 12 Jahre haben sie sich nicht gesehen. Und Lejla wird wenig reden. «Sie würde nicht mal etwas sagen, nur mit den Augen würde sie mir Europa ausziehen wie einer Neureichen den Pelzmantel und die Narben des Balkans schamlos an die Öffentlichkeit zerren.» Ich denke, Lana Bastašićs hat die Orte bewusst ausgewählt. Alles beginnt in Mostar, eine Stadt, die nach dem Bruderkrieg durch einen Fluss in zwei Hälften geteilt wurde – die berühmte «most» (die Brücke) wurde zerstört: auf der einen Seite die christlichen Kroaten, auf der anderen die muslimischen Bosniaken. Aufgewachsen sind die beiden Frauen in Banja Luka, eine Stadt im Norden von Bosnien – eine Stadt, die eine blutige Geschichte überschattet: 1941 von der deutschen Luftwaffe schwer zerstört, nach der Kapitulation Jugoslawiens dem Ustascha-Staat zugefallen, was eine Verfolgung von Serben, Juden und Roma nach sich zog (das sogenannte Massaker von Banja Luka, unter Führung von Josip Mislov und dem ehemaligen Franziskaner Miroslav Filipović wurden etwa 2.300 Serben, meist Frauen und alte Männer, mit «blanken Waffen» ermordet). 1969 zerstörte ein verheerendes Erdbeben große Teile der Stadt. Während des Bosnienkrieges (1992 bis 1995) wurden viele römisch-katholische und muslimische Gotteshäuser von seitens der bosnischen Serben gesprengt. Die meisten nichtserbischen Bewohner sind damals geflohen oder vertrieben worden, serbische Flüchtlinge aus anderen Landesteilen siedelten sich an und besetzten die Häuser und Wohnungen der geflüchteten Kroaten und Bosniaken. «Das war kein zweiwöchiger Urlaub, aus dem man nach Hause kam und sich wieder zu Michael ins Bett legte. Das war wie mit Heroin wieder anfangen. Schon hatte ich mich wieder mit meiner Muttersprache beschmutzt.» Nichts davon wird in der Geschichte erwähnt. Banja Luka war auch nie in das Kriegsgeschehen direkt eingebunden. Angedeutet wird das alte Jugoslawien, war es besser, ist es heute besser? Titowitze werden gerissen. Sara war die Tochter des örtlichen Polizeichefs. Bereits als die Mädchen Kinder sind, gibt es den Bruch in der Stadt: Lejla muss ihren Namen ändern, um die Ethnie zu verschleiern, die bosnische Lejla Begić wird zur Serbin Lela Berić – Armin ist nun Marco. Es nützt nichts, sie werden in der Schule ausgegrenzt. Der Vater schleift die 13-jährige Sara in die Kirche zur Taufe. «Zu dieser Zeit sprossen überall Kreuze und breiteten sich wie Unkraut aus: in Vorgärten, an Rückspiegeln, um den dicken Hals unseres Chemielehrers.» Armin, der Bruder von Lejla verschwindet als er sechzehn ist und ward nie wieder gesehen – die Dunkelheit hat ihn verschluckt. Es sind die kleinen unterschwelligen Andeutungen, die diesem Roadmovie unterlegen, die Erinnerung an die Kindheit. Sie fahren durch eine öde kaputte Landschaft – bloß weg, denkt sich Sara. Und wieso ist es so dunkel, ist es Nacht? Es ist helllichter Tag und Sara sieht nur Dunkelheit. Sie vergleicht sich mit «Alice im Wunderland», die in ein Kaninchenloch fällt. Seiner Herkunft kann niemand entwischen, sie hängt immer im Nacken. «Soll ich dir eine Geschichte erzählen?›, fragte Lejla plötzlich. ‹Nur wenn sie ohne Pointe ist, bitte.› ‹Klar ist sie ohne Pointe.› ‹Und Thema und Inhalt? Ort der Handlung?› ‹Thema: Pädophilie. Ort der Handlung: das Mathematikkabinett. Inhalt gibt’s keinen. Inhalte sind so dumm wie Pointen.» Eine Coming of age-Geschichte mit einem erzählerischen Du, das eine unangenehme Nähe erzeugt. Sara erzählt ihre Sicht der Dinge. Doch sie ist eine unzuverlässige Erzählerin, die sich selbst hin und wieder die Wand spielt, wenn Lejla sie korrigiert. Sara moralisiert, ist entsetzt über viele Dinge. Lejla sagt, wie es ist, Ende, vorbei, es war doch gar nichts, für sie gab es sicher ganz andere Dinge, die sie ertragen musste – über die sie nicht reden wird. Sie hat sich dem Leben in ihrem Land gestellt; Sara hat das Angebot angenommen, ihren Master in Irland abzuschließen, sie hat ihre eigne Geschichte verdrängt. Zwei verschiedene Charaktere – zwei Lebensläufe, eine Geschichte, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechselt – angefangene Szenen, die in einem anderen Kontext später weitererzählt werden. Es ist eine Identitätssuche – mit der Antwort, dass es für dieses Land kein Happyend geben kann, aber ein Weiterleben sich lohnt, für jeden. Präzise Sprache zeichnet diesen Roman aus, wie seine unterliegende Dunkelheit, die als eigenständiger Strang mitläuft – literarisch klug gestaltet, atmosphärisch, eine Geschichte, die berührt. «... dass der natürliche Zustand dieser Welt Unordnung war und dass unsere Leben, die um Anstrengung herum organisiert waren, Ordnung in all dieses Chaos zu bringen, eigentlich nichts anderes waren als ein Spiegelbild endloser Arroganz» Lana Bastašić, 1986 in Zagreb, Kroatien, als Kind serbischer Eltern geboren, wuchs nach dem Zerfall Jugoslawiens in Bosnien auf und lebte zuletzt viele Jahre in Barcelona. Sie hat bisher zwei Erzählbände und einen Lyrikband veröffentlicht, für die sie mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde. Bastašić ist Herausgeberin des spanischen Literaturmagazins «Carn de cap» und Mitbegründerin von «3+3 sisters», einem Projekt, das Autorinnen aus dem Balkan fördert. Mit ihrem Debütroman «Fang den Hasen» stand sie auf der Shortlist des NIN-Award, Serbiens renommiertesten Literaturpreis, und erhielt 2020 den Literaturpreis der Europäischen Union. Bastašić ist derzeit Writer in Residence in Zürich.

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